Die Herausforderungen der Pandemie für wissenschaftliche Evidenz

Böser Mainstream, gute Kritik?

Wie wird wissenschaftliches Wissen hergestellt? Was unter normalen Bedingungen viel Zeit und Austausch braucht, muss in der Pandemie anders funktionieren.

Die Neuartigkeit von Sars-CoV-2 und Covid-19 fordert etablierte medizinische und epidemiologische Gepflogenheiten heraus. Diese versuchen, Evidenzen herzustellen, also Forschungsergebnisse, die bestimmte Annahmen stützen oder widerlegen – zum Beispiel, dass ein Medikament bei einer Covid-19-Erkrankung hilft. Evidenzbasierte Medizin orientiert sich an empirischen Belegen statt beispielsweise an unüberprüfbaren Erfahrungswerten von medizinischem Personal. Die individuelle Patientin soll so die beste verfügbare Behandlung erhalten. Dafür wird die bestehende wissenschaftliche Literatur systematisch durchsucht, alle Daten werden zusammengetragen, ihre Validität wird bewertet.

In Deutschland ist dafür das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) verantwortlich. Nach dessen Empfehlung werden Medikamente und Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen oder eben nicht. Verschiedene Studientypen werden dabei als unterschiedlich verlässlich bewertet. Während einzelnen Fallbeobachtungen ein geringer Evidenzgrad zugesprochen wird, gelten größere randomisierte Studien mit Kontrollarmen in der Regel als qualitativ hochwertig. Bei solchen Studien werden Probandinnen und Probanden zufällig auf eine Therapiegruppe und eine nicht therapierte Kontrollgruppe verteilt. Zusammengefasst sollen die Daten aus verschiedenen Studien verlässliche Empfehlungen für die medizinische Praxis ermöglichen.

Was passiert aber, wenn die Datenlage unvollständig ist, weil nicht genug Zeit für größere Studien war? Oder wenn es nicht nur um die Behandlung einzelner erkrankter Personen geht, sondern politische Beschlüsse gefasst werden müssen, die Datenlage aber unklar ist? Dann müssen Prognosen und Modelle, die zum Teil nur auf Einschätzungen von Expertinnen und ­Experten basieren, für kurzfristige Entscheidungen ausreichen. Diese Schwierigkeit, ohne ausreichendes Wissen die Pandemie einzudämmen und Menschenleben zu retten, zeigt sich auch in einer Stellungnahme des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. (EbM-Netzwerk) vom April. Die Autorinnen und Autoren stellten anhand der vorhandenen Daten Mitte April fest, dass es »keine zuverlässigen Zahlen zu der Letalität von Covid-19« gebe. Außerdem gebe es »wenig Evidenz« für die Wirksamkeit von Maßnahmen wie social distancing, ­weder deren Nutzen noch ein möglicher Schaden seien belegt. Dennoch, so die Stellungnahme, seien solche ­Maßnahmen sinnvoll, weil es zurzeit »das einzige ist, was getan werden kann«.

Seit Beginn der Pandemie arbeiten weltweit unzählige Forschungsteams daran, Daten zu dem Virus zu generieren sowie Behandlungs- und Präventionsmöglichkeiten zu entwickeln. Die globale Erwartung an die Wissenschaft, schnell eine Lösung für die Coronakrise zu finden, verstärkt bereits vorhandene problematische Tendenzen. Die Notwendigkeit, zu publizieren, um im akademischen Betrieb nicht unterzugehen, erzeugt eine immer größere Anzahl wissenschaftlicher Manuskripte, bis zu deren Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift mehrere Monate vergehen können.

Als Gegenmittel haben sich in den letzten Jahren preprint servers etabliert. Auf diesen Plattformen laden Forschende ihre Ergebnisse hoch, um sie den Kollegen und Kolleginnen sofort zugänglich zu machen – vor der peer review, also noch ohne unabhängige Überprüfung durch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie haben einige der Plattformen zusätzliche Kontrollen eingeführt. Diese können zwar eindeutig verschwörungsideologische Inhalte herausfiltern, eine gründliche Überprüfung können sie aber aufgrund der großen Menge an Publikationen nicht leisten. Die Inhalte übernehmen Journalistinnen und Journalisten dennoch oft ungekennzeichnet als wissenschaftliche Fakten.

Schon für Fachleute ist es nicht einfach, die große Menge an neuen Studien zur Kenntnis zu nehmen und deren mitunter widersprüchliche Ergebnisse einzuordnen. Für Laien, die versuchen, über die Lage informiert zu bleiben, ist dies erst recht schwierig. Zudem entstehen nicht alle verfügbaren Informationen aus einem edlen Wettstreit in der Wissenschaft. Pharma­unternehmen, die im Wettrennen um das erste wirksame Medikament und den ersten Impfstoff auf große Gewinne hoffen, finanzieren viele Studien, Politiker erhoffen sich Argumente für ihre Lockerungspläne, und große Medienhäuser wollen Aufmerksamkeit generieren, indem sie die Studienergebnisse bekannter Virologen in den Dreck ziehen. Wer hier welche Informationen mit welcher Intention präsentiert, ist also oft einen zweiten Blick wert.

Mitte Mai warnte der Verband Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) in einer Stellungnahme davor, dass auch Kolleginnen und Kollegen das Evidenz-Wirrwarr und »die krisenhafte Situation ausnutzen«, um »öffentlich beispielsweise als ›die wahren Aufklärer‹« aufzutreten. Kritisch sein heiße jedoch nicht, »sich die Welt so zusammenzuspinnen, wie es uns am besten passt«. Nicht alle Coronaverharmloser sind Rechte. Einige der selbsternannten Aufklärerinnen und Aufklärer finden sich auch in der Linken. So sorgte die Herangehensweise des Berliner Praxiskollektivs in der Reichenberger Straße für hitzige Diskussionen in gesundheitspolitischen und linken Kreise und war für den VDÄÄ ein Auslöser für die kritische Stellungnahme, wie Nadja Rakowitz der Jungle World sagte (22/2020). In einem Aufruf »Gegen das Diktat der Angst« hatte das Paxiskollektiv Ende März geäußert, es behandele »keine Grippewelle, sondern eine Welle aus Angst und Verunsicherung«, und »eine Rücknahme der das Gesundheitssystem beeinträchtigenden Maßnahmen« gefordert. Auf seiner Webseite sammelt das Kollektiv bereit seit Februar »wissenschaftliche Beurteilungen der Corona-Pandemie abseits des Mainstreams«, um »jedem die Gelegenheit zu geben, sich selbst ein Bild zu machen«. Als abseits des Mainstreams gelten dabei vor allem Stimmen, die eine Übersterblichkeit durch Covid-19 anzweifeln. Auch im Interview mit der Taz Mitte Mai betonten die beiden Ärzte Michael Kronawitter und Claudius Loga, dass weiterhin unklar sei, wie gefährlich Sars-Cov-2 tatsächlich ist. Sie wollten die Gefahr »nicht verharmlosen, sondern relativieren«. Ob die Bewertung einer Situation jedoch Angstmache oder Verharmlosung ist, entscheidet sich offensichtlich in Relation zu der realen Gefahr.

Auch die österreichische Initiative für evidenzbasierte Coronainformationen (Jungle World 19/2020), die sich selbst als »weder links noch rechts« einordnet, gibt sich wissenschaftlich. Sie setzt sich mit Kundgebungen gegen Maßnahmen wie die Maskenpflicht ein und leugnet die Gefährlichkeit des Virus. Sie hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, auf ihrer Website Fachartikel »herauszufiltern, die einen kritischen Zugang zur Thematik enthalten«. Damit konterkariert die Initiative ihren eigenen Namen. Schließlich geht es bei evidenzbasierter Medizin darum, alle seriösen wissenschaftlichen Ergebnisse systematisch zusammenzutragen. Zudem verlinkt die Initiative nicht nur Studien mit Daten, sondern auch opinion papers, also Kommentare – ohne die Unterschiede im Evidenzgrad der verschiedenen Quellen kenntlich zu machen.

In beiden Fällen geben sich die Coronaverharmloser seriös, sie haben selber Doktortitel und treten als Wissenschaftler auf. Ohne Fachwissen ist dem argumentativ kaum zu begegnen. Nur wissenschaftliche Expertisen oder Studien zu zitieren, ist aber keine Aufklärung. Es ist vielmehr wichtig, Ergebnisse und Meinungen einzuordnen und zu erklären, was seriöse Studien auszeichnet. Zudem müssen Forschende selbstkritisch sein und ausweisen, wo wissenschaftliches Wissen seine Grenzen hat. Wie der VDÄÄ schreibt: »Unsicherheiten sind Teil des Lebens und auch der medizinischen Wissenschaft.«