In Mittelamerika und der Karibik schrumpfen die Devisentransfers Ausgewanderter

Der Fluch der Karibik

In der Pandemie schrumpfen die »remesas«, die vornehmlich in US-Dollar getätigten Devisentransfers. Länder in Mittelamerika und der Karibik sind besonders abhängig von den Überweisungen Ausgewanderter an ihre Familien.

Für Danilo Rivero sind die Zahlen des Banco de Guatemala (Banguat), die eine Verringerung der Geldüberweisungen aus dem Ausland belegen, keine große Überraschung. »Die 2,5 Millionen Guatemalteken, die in den USA legal oder illegal leben, gehören doch zu den Ersten, die in der Coronakrise entlassen werden. Da ist es nur folgerichtig, dass sie ihren Familien hier vor Ort weniger oder auch gar nichts überweisen können«, so der Migrationsexperte aus Guatemala-Stadt. Das schlägt sich in den Statistiken des Banguat nieder: Im März gingen die Geldüberweisungen aus dem Ausland im Vergleich zum Vorjahresmonat um rund zehn Prozent zurück; im April waren es bereits 20 Prozent – statt 865 Millionen US-Dollar landeten nur 690 Millionen US-Dollar auf den Konten guatemaltekischer Familien. Das entspricht den Prognosen der Weltbank, die vorhersagte, dass die remesas 2020 im Vergleich zum Vorjahr weltweit um knapp 20 Prozent sinken werden.

Nicht nur in Havanna werde derzeit mit Yuccabrot als Alternative zum Weizenbaguette experimentiert, berichten Journalisten aus Kuba.

Für viele Ökonomien und, noch wichtiger, für viele Familien hat der regelmäßige Devisenzufluss aus den USA, Europa oder anderen Regionen existentielle Bedeutung. Besonders ausgeprägt ist diese Abhängigkeit allerdings in den Nationalökonomien Mittelamerikas und der Karibik, wo die remesas einen erklecklichen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bilden. In Guatemala entfielen zuletzt 13,8 Prozent des BIP auf sie, in Nicaragua elf, in El Salvador 16 und in Honduras sogar 20 Prozent. Das sind allesamt Länder, die von Migration in die USA geprägt sind – und auch von Abschiebungen aus den USA. Deren Anzahl ist unter Präsident Donald Trump gestiegen, aber schon unter seinem Vorgänger Barack Obama wurde die Abschiebepraxis verschärft. Das Gros der Migranten habe, so der Soziologe Rivero, kaum Rücklagen, um die meist regelmäßig erfolgenden Geldtransfers an die Familien in den Ursprungsländern weiter tätigen zu können. Das werde die Wirtschaft Guatemalas treffen und den Neustart nach der Pandemie noch schwerer machen.

Der wird ohnehin auf sich warten lassen, die Infektionszahlen in Mittel- und Lateinamerika werden Experten zufolge ihren Höchststand erst Anfang Juni erreichen. Viele der Volkswirtschaften Mittelamerikas und der Karibik sind auf wenige Branchen und eben die remesas angewiesen, so Manuel Orozco, ein Migrationsexperte des Think Tank »Inter-American Dialogue« in Washington, D.C. »Schon jetzt ist recht klar, dass die Länder in eine tiefe Rezession abgleiten werden. Die besonders vom remesa-Zufluss abhängigen Ökonomien, wie die Haitis, Kubas, der Dominikanischen Republik und der Staaten Mittelamerikas – mit Ausnahme von Panama und Costa Rica –, sind in ihrer Wirtschaftsentwicklung ohnehin von externen Faktoren wie dem Tourismus, dem Export bestimmter Agrarprodukte wie Kaffee oder der Produktion von Gütern für den internationalen Markt in Sonderwirtschaftszonen, den Maquilas, abhängig«, so Orozco.

In Mittelamerika macht sich bereits der Preisverfall an den internationalen Kaffeebörsen von New York und London negativ bemerkbar. Für das Pfund Kaffee erhielten die Produzenten am 28. Mai nur noch 99 US-Cent, vor der Coronakrise waren es mehr als 1,30 US-Dollar. Das trifft Länder wie Guatemala, Nicaragua und Honduras schwer, für die der Kaffeeexport eine zentrale Devisenquelle ist, von der viele Familien abhängen. Orozco stellt dies als einen weiteren negativer Faktor heraus. Der in Nicaragua geborene US-Amerikaner ist ein international bekannter Experte für die Ökonomie der Region und arbeitet seit mehr als 20 Jahren für den Think Tank, der sich für demokratische Strukturen und Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik engagiert. Die Coronakrise könnte diese Entwicklung beeinträchtigen und die Armut vergrößern. »Der Rückgang der remesas trifft die Empfängerfamilien in einer ohnehin schon schwierigen Situation. Die remesas wirken wie ein sozialer Schutzschirm, der wird nun löchriger. Ein grundsätzliches Problem aber ist, dass die Regierungen keine Programme auflegen, um dieses Kapital für produktive Investitionen zu nutzen«, kritisiert Orozco.

Das habe Inter-American Dialogue immer wieder angeregt, aber mit sehr begrenztem Erfolg. Gerade in Ländern, in denen soziale Kompensationsmaßnahmen der Regierung spärlich ausgefallen sind oder nur geringe Teile der Bevölkerung erreichen, könnte das Ausbleiben der remesas gravierende Folgen haben, warnen Experten wie Orozco oder Roy Germano, Professor an der New York University. Dieser warnt in der New York Times, die Einkommensverluste könnten auch für soziale Unruhen sorgen.

Migranten aus Zentralamerika und der Karibik trifft die Krise auf dem Arbeitsmarkt bereits jetzt besonders hart. Das von ihnen überwiesene Geld wird oft nur für alltägliche Ausgaben verwendet und zu selten in den Aufbau von kleinen Geschäften und Dienstleistungsbetrieben investiert. Der Anteil der Empfänger, die ein kleines Unternehmen, eine microempresa, aufgebaut haben, sei geringer als zehn Prozent, so Orozco. Zudem werde die Coronakrise diese Geschäfte überproportional stark treffen, Pleiten seien wahrscheinlich. Das zeichnet sich nicht nur in Mittelamerika ab, sondern auch in der Karibik.

Dort haben sich die Regierungen in den vergangenen Jahren immer stärker auf den Tourismus fokussiert und vermarkten das Klischee von Strand, kristallklarem Meer, unbeschwertem Leben und karibischen Rhythmen. Das gilt für die größeren Staaten wie Kuba und die Dominikanische Republik, aber mehr noch für die kleineren Karibikstaaten, die bis zu 75 Prozent ihrer Deviseneinnahmen durch den Tourismus generieren. Der international verfügte Reisestopp hat dem vorläufig ein Ende bereitet, derzeit ist kaum absehbar, wie lange Flugreisen in diese Region noch weitgehend ausgesetzt bleiben.

Klar ist, dass die Branche zunächst darben wird – und mit ihr die lokale Bevölkerung. Experten wie Orozco oder der Berliner Politikwissenschaftler Bert Hoffmann warnen, dass Verdienstausfälle, die derzeit zumindest partiell kompensiert werden, über so lange Zeiträume nicht ansatzweise aufgefangen werden können. Die einseitige Ausrichtung auf den Tourismus erzeugt zudem hohe Abhängigkeit vom Lebensmittelimport. Sieben Mitgliedstaaten der Karibischen Gemeinschaft Caricom wie Trinidad und Tobago sowie Jamaika importieren 80 Prozent ihrer Nahrungsmittel. In Antigua, St. Kitts und den Bahamas sind es sogar 90 Prozent. Das bereitet den Regierungen nun Pro­bleme, denn in der Coronakrise steigen Lebensmittelpreise und die lokale ­Agrarwirtschaft ist entweder nur noch partiell in Betrieb oder dysfunktional wie in Kuba.

Offiziellen Quellen zufolge importiert Kuba rund 80 Prozent der konsumierten Kalorien, seit Monaten gibt es Verzögerungen beim Import wichtiger Lebensmittel wie Speiseöl, Huhn oder Mehl. Nicht nur in Havanna werde derzeit mit Yuccabrot als Alternative zum Weizenbaguette experimentiert, berichten Journalisten von der Insel. Das ist ein Indiz dafür, dass Lieferanten nicht oder nicht fristgerecht bezahlt werden. Auch der auf den Tourismus ausgerichtete private Sektor innerhalb der weitgehend staatlichen Inselökonomie kriselt. Mehr als 30 Prozent der rund 600 000 privaten Selbständigen droht die Pleite. Zusätzlich könnte sich der Rückgang der remesas bemerkbar machen, die die Havana Consulting Group, eine in Miami ansässige, gut vernetzte Analystengruppe, auf drei bis fünf Milliarden US-Dollar pro Jahr taxiert. ­Damit übersteigen sie die gesamten Exporteinnahmen der Insel.

Orozco schätzt, dass Kubas Ökonomie zu denen zählen wird, die die Coronakrise und deren Folgen wie die sinkenden remesas besonders hart treffen. »Schon vor dem Ausbruch der Pandemie konnte Kuba Kredite nicht bedienen, das Land ist nahezu bankrott«, meint der Wissenschaftler und malt die Zukunft der Karibik, aber auch Mittelamerikas in düsteren Farben. »Der wirtschaftliche Aufschwung wird sich verzögern, die Armut wird wachsen und die Kaufkraft der Staaten wird 2021 nicht das Niveau von 2019 übersteigen, so meine Prognose«, sagt er. »Zudem sind die Programme, die die Regierungen in Mittelamerika und der Karibik zur Förderung der Wirtschaft planen, unterdimensioniert – sie belaufen sich auf im Durchschnitt auf rund drei Prozent des BIP.« Damit komme man nicht weit, wenn man von einem Rückgang des BIP um sieben Prozent im Vergleich zum Vorjahr ausgeht. Das aber sei realistisch, die tatsächlichen Verluste könnten sogar noch höher ausfallen.