Eine Würdigung des verstorbenen Soziologen Albert Memmi

Ein Denken in Ambivalenzen

Seine theoretischen Schriften über Rassismus, Kolonialismus und Antisemitismus sind von großer Aktualität: Zum Tod des französisch-­tunesischen Soziologen und Schriftstellers Albert Memmi, der im Alter von 99 Jahren in Paris gestorben ist.

Albert Memmi, Kind einer jüdischen Familie, Teilnehmer am tunesischen Unabhängigkeitskampf und französischer Intellektueller und Roman­autor, ist ein wichtiger kritischer Chronist des 20. Jahrhunderts. Sein Werk indes ist international wenig, in Deutschland so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen worden. Dabei ist sein Denken, das ein durch biographische Erfahrung geprägtes Bewusstsein für Ambivalenz und Differenz auszeichnet, gerade im Zeit­alter globaler Gleichzeitigkeit bedeutsam.

Eine gewisse Bekanntheit hat Memmis klassische Definition des Rassismus erlangt. In jeder Einführung ins Thema zitiert, wird ihre auf gut 100 Druckseiten in dem Buch »Le racisme. Description, définition, ­traitement« entfaltete Begründung kaum gelesen. Diese jedoch ist ebenso entscheidend für den Gegenstand wie bezeichnend für die Perspektive des Autors, befragt er doch seine eigene Definition und seine eigene Darstellung fortlaufend kritisch auf deren Reichweite und Grenzen.

Wie auch im Fall des europäischen Antisemitismus sei es »nicht der Zionismus, der den arabischen Antisemitismus erzeugt hat, sondern genau umgekehrt«, so Albert Memmi.

Rassismus, so Memmi, sei »ebenso eine Denk- und Sprech- wie eine Handlungsweise, eine Argumentation zur Vorbereitung einer Handlung, eine Handlung, die durch eine Argumentation legitimiert wird«. In einer Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleichzeitiger Rechtfertigung würden Angst und Aggression kanalisiert, indem eine Bewertung von Differenz zwischen Menschen verallgemeinert und verabsolutiert wird. »Der Rassismus«, schreibt Memmi, »beginnt mit der Interpretation der Unterschiede.« Wenn diese Interpretation nun eine »verallgemeinerte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers« darstellt und »seine ­Privilegien oder seine Aggressionen« rechtfertigen soll, dann handele es sich um Rassismus.

Memmi versteht Rassismus als Veranschaulichung und Symbolisierung der Möglichkeit einer Beherrschung anderer; mithin als »eine mittelbare oder unmittelbare Manifestierung der Herrschaft«. Die Entscheidung für den Rassismus erscheint paradoxerweise einfacher als die dagegen. In der sozialen Praxis, in der alltäglichen Sprache und in der individuellen Sozialisation werden die Ungleichheit reproduzierenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse bejaht.

Im Gegensatz zu vielen späteren Darstellungen bleibt Memmi so ambivalent wie die Verhältnisse. Ein Begriff des Rassismus im weiteren Sinn (»verallgemeinerte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede«), der – mit den Worten Detlev ­Claussens – als eine »Sozialpsychologie der Heterophobie« über sich ­hinausgetrieben wird, steht neben einem Begriff im engeren Sinn (»verallgemeinerte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer ­Unterschiede«). Eine solche biologisierende »Interpretation der Unterschiede« wird historisch vor allem mit den »Rassentheorien« des 19. Jahrhunderts assoziiert. Doch auch an­dere Elemente können deren Funktion einer »Abbildung der Schicksalhaftigkeit« erfüllen. Die Ausflucht, man spreche nicht von Biologie und könne deshalb auch kein Rassist sein, gehört in diesen Zusammenhang. Memmi weiß aus seiner Analyse kolonialer Herrschaft ebenso wie Frantz Fanon, dass »Kultur« immer mitgemeint war, wenn von »Rasse« gesprochen wurde. Die Frage, ob der Begriff des Rassismus für nichtbiologisierende Varianten der »Interpretation der Unterschiede« noch zutreffe, bejaht Memmi zwar, aber er bleibt darin ambivalent.

Anders als in neueren Darstellungen, die dies einseitig auflösen oder sich ins Schema der Kulturindustrie, den jeweils »Neuen Rassismus« flüchten, bleibt so die sich verändernde gesellschaftliche Gewaltpraxis als Ambivalenz im Begriff und zwischen den Begriffen sichtbar. Darin scheint die Verdopplung der Gewalt in der Moderne auf, die den einzelnen Menschen letztlich grundlos, irrational angetan und die zugleich antisemitisch oder rassistisch rationalisiert wird. Sie erniedrigt die besonderen Opfer zu bloßen Exemplaren. Das Zurückschrecken vor der blinden Reproduktion solcher Obszönität der gesellschaftlich sich voll­ziehenden Unterscheidung von Gewalt und Gewalt, Tod und Tod, von Horkheimer und Adorno als eine Dialektik der Aufklärung entschlüsselt, gehört zur Ambivalenz des Begriffs auch bei Albert Memmi.

Ambivalenz bleibt auch erkennbar in seiner Einordnung des Antisemitismus als Ausprägung des Rassismus oder der Heterophobie. Denn neben der Anerkennung einer gleichermaßen grundlosen Gewalt gegen be­sondere Opfer beschreibt Memmi das unsubsumierbare Moment der Judenfeindschaft. Dass auch im modernen Antisemitismus die Ermöglichung der Beherrschung anderer gesetzt wird und zugleich dieser Herrschaft ein Gesicht, das des absoluten Anderen, gegeben wird, scheint in Memmis indirekten Bezügen auf Auschwitz durch, »die fast unbegreifliche Monstrosität der von den Nazis ergriffenen Maßnahmen«.

Rassistische Erniedrigung ist »Quintessenz und Symbol« der über die antifaschistische Befreiung Europas hinaus fortbestehenden Kolonialherrschaft. Memmi umkreist auch diese Erfahrung von Ambivalenz bei historisch-gesellschaftlicher Gleichzeitigkeit. Aus seiner biographischen Erfahrung multipler Marginalisierung, als Kolonisierter und als tunesischer Jude hat er sie in seinem Werk dargestellt, etwa in dem bekannten Roman »Die Salzsäule« (1953), seinem Porträt »Der Kolonisator und der Kolonisierte« (1957) und in den in dem Band »Juifs et Arabes« gesammelten Aufsätzen (1974).

So klar wie Memmi die antikolonialen Befreiungskämpfe befürwortet, so deutlich sieht er die Kontinuität eines genuin »arabischen Antisemitismus«, wobei er bemerkt, dies sei »kein glücklicher Terminus«, da es die Existenz des ebenso arabischen Judentums betreffe. Die Wendung der postkolonialen Regierungen gegen Minderheiten, insbesondere die Juden, antizipiert er früh. Ähnlich wie Fanon warnt er vor einer mystifizierenden Bejahung des Kolonisierten gegen dessen Negation durch den Kolonisator.

Der Konstellation einer postkolo­nialen Welt, in der die Gewaltverhältnisse sich noch vielgestaltiger über­lagern, hat Memmi in den Essays »Was ist ein arabischer Jude?« (1973) und »Was ist ein Zionist?« (1975) Ausdruck verliehen, aber auch in seinen bewegenden Darstellungen der Situation der jüdischen Gemeinschaften im Maghreb. »Der Preis, den wir für unsere ›farbenprächtige‹ Existenz und unsere Traditionen zahlen«, hält er Mitgliedern eines französisch-jüdischen Frauenvereins entgegen, »ist unsere physiologische ­Armut, Unterernährung, Syphilis, Tuberkulose, Geisteskrankheit. (…) Was wir erfahren, ist eine alltägliche, ganztägige historische Katastrophe.« An die arabischen Nationalbewe­gungen gerichtet fragt er: »Die Araber wurden kolonisiert, es ist wahr. Aber wurden wir das nicht? Was wurden wir für Jahrhunderte, wenn nicht beherrscht, gedemütigt, bedroht und zeitweise massakriert?« So könne man den jüdischen Gemeinschaften kaum ihre Ambiguität bezüglich kolonialer wie postkolonialer Herrschaft vorwerfen. Dies umso weniger, als auch in der jüdischen Befreiungsbewegung, dem Zionismus, die Erfahrung des arabischen Judentums marginalisiert und zum Verschwinden gebracht werde. Der mit unterschiedlichen Motiven von aschkenasischen Zionisten lange und von arabischen Nationalisten bis heute kultivierte Mythos, arabische Jüdinnen und Juden hätten keinen Anteil gehabt am Zionismus, überschneide sich mit einer Kontinuität des Antisemitismus, nun bezogen auf den Judenstaat als vor allem »europäisch« oder als »fremder Entität«.

Wie auch im Fall des europäischen Antisemitismus sei es »nicht der Zionismus, der den arabischen Antisemitismus erzeugt hat, sondern genau umgekehrt«. Gerade in einer Perspektive der Gleichzeitigkeit wird deutlich, dass das Projekt jüdischer Selbstbefreiung – trotz aller darin noch uneingelösten Versprechen, auf denen Memmi besteht, und trotz der Behauptung eines jeden Nationalismus, es existiere eine »mythische Bindung«, was er ablehnt – auch eine antikoloniale Emanzipations­bewegung darstellt, deren Notwendigkeit auch vor Ort, im Nahen Osten, produziert wurde. Israel, so kann man mit Memmi formulieren, ist das postkoloniale Produkt eines kolonialen Verhältnisses, »die Nation-als-Antwort«; seine (politische) Anerkennung würde die Dekolonisierung des Nahen Ostens vervollständigen.

Der Universalismus, folgert Memmi, bislang »Täuschung (…) oder ­reine Utopie,« bleibt unter sich gesellschaftlich unbegriffen reproduzierenden Gewaltverhältnissen absolut notwendig – »so paradox es klingt«. Dass Ambivalenz und Differenz erst in einer Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen konkrete Anerkennung und Gerechtigkeit erfahren würden, diese wiederum ambivalente Hoffnung liegt in dem Satz: »Jeder unterdrückte Mensch erkennt die Züge seiner eigenen Situation in der anderer unterdrückter Menschen.«