Die erste Biographie über Julia Kristeva

Radikale Unaufgeregtheit

Die französische Theoretikerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva wurde oft mit poststrukturalistischen Autorinnen und Autoren ihrer Zeit in einen Topf geworfen. Was ihr Denken beeinflusste und wie eigenständig es war und ist, zeigt nun die erste Biographie über sie.

Schon der Ausgangspunkt von Julia Kristevas Karriere und Werk war ­ungewöhnlich. Dass die Literaturwissenschaftlerin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Ende 1965 als mittellose Doktorandin mit ein paar Dollar in der Tasche überhaupt nach Paris kam, ist nach wie vor beachtlich. Von den bulgarischen Behörden mit der Erlaubnis ausgestattet, einen Forschungsaufenthalt in Frankreich zu absolvieren, dachte die damals 24jährige nicht daran, wie vorgesehen in ihre Heimat zurückzukehren. Vielmehr schloss sie sich dem Avantgarde-Zirkel um die Zeitschrift Tel Quel an, heiratete den Schriftsteller Philippe Sollers und verfasste zunächst für die Linguistik der späten sechziger Jahre herausfordernde Schriften, auf welche bahnbrechende theoretische Arbeiten folgten, allen voran »Die Revolution der poetischen Sprache« und »Pouvoirs de l’horreur«.

Kristeva stiftete alsbald debattenprägende Begriffe – »Abjekt«, »Chora«, »Intertextualität« –, die in der ­Literatur- und Filmtheorie sowie insbesondere in der Kunst nachwirkten, und befasste sich früh mit Sujets, denen erst im 21. Jahrhundert wieder mehr Aufmerksamkeit zukam, etwa der psychischen Konstitution des Nationalismus oder dem Bösen. Rund 50 Monographien hat sie mittlerweile vorgelegt, davon allein 13 in den Neunzigern und ebenso viele in den nuller Jahren. Hinzu kommen ihr zivilgesellschaftliches Engagement gegen Jihadismus, ehrenamtliche Tätigkeiten für Care-Arbeit sowie die ­unaufgeregte Verteidigung des Atheismus. Kristevas Gesamtwerk ist kaum schmaler als dasjenige von Gilles Deleuze, Jacques Derrida oder Michel Foucault. Und dennoch hat es weit weniger Beachtung gefunden als das Œuvre ihrer Zeitgenossen und zeitweiligen Weggefährten.

Die Biographin Jardine rückt Kristeva als Autorin in den Vordergrund, um darzulegen, wie sie in beispielloser Produktivität das analytische Licht auch auf die unbequemsten Aspekte des Menschlichen richtet und wie sie keine Scheu zeigt, dem Unaus­sprech­lichen zur Sprache zu verhelfen.

Diese Ignoranz äußerte sich bereits darin, dass ihr Name in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beharrlich mit denjenigen zweier anderer Pariser Denkerinnen zusammengespannt wurde, obwohl sich deren Arbeiten von Kristevas merklich unterschieden. Das mag dem Bedürfnis der Neuen Frauen­bewegung geschuldet sein, über einen eigenen, zeitgenössischen Kanon zu verfügen – einige Jahre bezeichnete man im deutschsprachigen Raum Hélène Cixous, Luce Irigaray und Kristeva kollektiv als »die Französinnen« –, doch ist es erklärungsbedürftig, wenn auch die nichtfeministische Publizistik und Forschung der Tendenz folgt, sie zu einem Trio Cixous–Irigaray–Kristeva zusammenzufassen. Wer hätte schon jahrelang genauso beharrlich von De­leuze–Derrida–Foucault gesprochen, nur weil alle drei Herren in der­selben Stadt und zur selben Zeit mit philosophischen Fragestellungen befasst waren?

Zum augenfälligen Unwillen, Denkerinnen als Einzelne wertzuschätzen, gesellte sich konventioneller verlegerischer Sexismus. Während Suhrkamp noch den abseitigsten Aufsatz und das belangloseste Interview Foucaults zwischen Taschenbuchdeckel presste und dessen kleinere Schriften in einer Vielzahl an Einzelbänden immer wieder neu anpries, darüber hinwegtäuschend, dass vieles davon schlichtweg überholt ist, veröffentlichte der Verlag in den vergangenen 50 Jahren gerade einmal drei Monographien Kristevas. Zahlreiche ihrer wichtigen Abhandlungen liegen bis heute nicht auf Deutsch vor, die vielleicht wichtigste, »Die Revolution der poetischen Sprache«, ist noch immer lediglich als Teilübersetzung verfügbar. Diese wurde 1978 gar mit dem Hinweis eingeleitet, dass die im Original vorgenommene Analyse der Lyrik der französischen Dichter Mallarmé und Lautréamont sich technisch nicht erschlösse, weswegen sie gar nicht erst übertragen worden sei – man stelle sich vor, zwei Drittel von Derridas »Grammatologie« oder Foucaults »Die Ordnung der Dinge« wären dem deutschsprachigen Publikum mit ­einem solchen Hinweis vorenthalten worden. Ihre beiden Zeitgenossen hat Kristeva in ihrem 1990 erschienenen autobiographischen Roman »Les Samouraïs« übrigens wenig sympathisch gezeichnet. Wer sich über akademisches Platzhirschverhalten mokieren möchte, kommt dort auf seine Kosten – und erfährt nebenbei, dass die gemeinsam zurückgelegte Strecke der Lebenswege keinen Konsens namens Poststrukturalismus begründet hat, dem die Autorin bis heute oftmals zugerechnet wird.

Nach einem halben Jahrhundert Forschung, Lehrtätigkeit und Behandlungspraxis weltweit publizierte die Wissenschaftlerin 2016 »Je me voyage«, ihre Memoiren. Komplementär zu diesen hat Alice Jardine nun mit »At the Risk of Thinking« die erste werkorientierte Biographie Kristevas vorgelegt. Die in Harvard lehrende Romanistin hatte in den siebziger Jahren bei der Porträtierten studiert, eine ihrer Abhandlungen ins Englische mit übersetzt und sie später mit Blick auf die US-amerikanische Theoriediskussion der vergangenen Jahrzehnte interviewt. Aus dieser geistigen Nähe resultiert der betont vertrauliche Rahmen der Darstellung. Den Mangel an Distanz leugnet Jardine nicht, Persönliches, gar Intimes unterliegt dennoch der Diskretion: Aus Briefen und anderen privaten Dokumenten zitiert sie fast nicht. Stattdessen rückt Jardine die Autorin Kristeva in den Vordergrund, um darzulegen, wie sie in beispielloser Produktivität das analytische Licht auch auf die unbequemsten Aspekte des Menschlichen richtet und wie sie keinerlei Scheu zeigt, dem Unaussprechlichen zur Sprache zu ver­helfen.

Die Schilderung des Lebenswegs zeigt, dass einiges früh in Richtung der später formulierten Theoreme wies. So lassen sich beispielsweise von Kristevas Kindheit und Jugend im stalinistischen Bulgarien durchaus Rückschlüsse auf ihren konsequenten Einsatz gegen die totalitären Tendenzen und Phänomene des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts ziehen. Auch dass die unbekümmerte Atheistin um die zivilisationsstiftenden Momente des Glaubens weiß und diesbezüglich sehr scharf zwischen Christentum und Islam ­unterscheidet, ist diesem Register zugehörig. Philippe Sollers jahrzehntelange Liaison mit der belgischen Schriftstellerin Dominique Rolin (1913–2012) wiederum, der Jardine einigen Platz einräumt, erscheint aus anderen Gründen bemerkenswert. Denn an der unkonventio­nellen Ehe Sollers/Kristeva ist besonders deren Abgeklärtheit interessant. In einer Zeit, in der jedes nicht ganz gewöhnliche Verhalten als »queer« rubriziert wird, erinnert das schreibende Paar so mühelos wie unprätentiös an die Vielfalt heterosexueller Liebe, was um einiges wissenswerter ist als das ideologische Gerümpel aus dem Hause ­»Polyamory«.

Zu den überraschenden biographischen Details zählt auch, dass Kristeva bereits Monographien veröffentlicht hat, bevor sie Bulgarien verließ, und dass sie offenbar mehr von den theoretischen Überlegungen ­ihrer eigenen Analytikerin – der aus Mannheim stammenden, vor den Nationalsozialisten geflohenen Ilse Barande (1928–2012) – adaptiert hat, als bislang bekannt gewesen ist. ­Dazwischen erfährt man immer wieder Heiteres, beispielsweise die amüsante Anekdote, weshalb Jacques Lacan 1974 die berüchtigte Reise der Redaktion von Tel Quel nach China nicht antrat.

Etwas bedauerlich ist, dass Jardine gerade dort, wo in der politischen Gegenwart darauf zu insistieren wäre, die Gefahr des Denkens auf sich zu nehmen – worauf der Titel des Por­träts schließlich beharrt –, etwas zu schnell ist. Das ist mitunter den Ereignissen der vergangenen Jahre ­geschuldet. 2018 beispielsweise bedrohte ein Skandal um eine ange­bliche Geheimdiensttätigkeit zu Ostblockzeiten Kristevas Reputation ­vehement. Dass die mit dem Decknamen »Sabina« versehenen Akten weitaus weniger hergeben, als es die mediale Unruhe zunächst suggerierte – und zudem Kristeva den Vorwurf aufs Schärfste zurückwies –, hat Jardine gut aufgearbeitet. Dennoch ist schade, dass die Biographin anderen, gewichtigeren Belangen weniger Aufmerksamkeit ­gewährt, als diese verdient hätten.

Gerade Kristevas gelassene poli­tische Betätigung verdient nähere Betrachtung und umfänglichere Würdigung. So hat sie beispielsweise den Prix Simone de Beauvoir pour la liberté des femmes initiiert, mit dem seit 2008 Individuen und ­Organisationen geehrt werden, die sich weltweit für die Belange und die Würde von Frauen einsetzen und dafür häufig Haft oder Exil, wenn nicht den eigenen Tod riskieren. In Zeiten, in denen schon der Gebrauch des Begriffs »Frauenrechte« Widerstände provoziert, ist die Vergabe einer solchen Auszeichnung eine doppelte Provokation. Sie opponiert zum einen gegen die Konventionen eines sinnentleerten Kultur- wie Universitätsbetriebs, der fast nur noch Harmloses und Konventionelles auszeichnet, und zum anderen gegen Diktaturen, Despoten und Patriarchen in aller Welt. So unbeeindruckt wie unmissverständlich tut sie kund, dass deren misogyne und menschenfeindliche Aktivitäten zur Kenntnis genommen werden und dass die­jenigen, die sie zum Schweigen bringen wollen, eben doch auch mit Aufmerksamkeit und Solidarität aus dem Westen rechnen können.

Die jährliche Preisverleihung erinnert daran, dass es immer etwas gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Inwiefern Kristeva dies zeit ihres publizistischen Lebens selbst eingelöst hat – zunächst in der Theorie, dann in der psychoanalytischen Praxis, schließlich auch in politischer Intervention –, hat Jardine griffig dargelegt.

Alice Jardine: At the Risk of Thinking. An Intellectual Biography of Julia Kristeva. Bloomsbury Academic, London / New York 2020, 400 Seiten, ca. 25 Euro