Verhungern lassen
Anfang Mai schlug die französische Website »Darwin Nutrition« Alarm. 58 Prozent der Französinnen und 56 Prozent der Franzosen hätten während des rigide gehandhabten lockdowns um durchschnittlich zweieinhalb Kilogramm an Gewicht zugenommen, teilten die Betreiber der Ernährungsberatungsseite mit. Dies hatte eine im Auftrag von »Darwin Nutrition« durchgeführte Befragung des Meinungsforschungsinstituts IFOP gezeigt.
Ein ähnliches Bild ergibt sich in Italien. Um 18 Prozent seien dort während der fast zweimonatigen Ausgangssperre im März und April diesen Jahres die Ausgaben für Lebensmittel gestiegen – trotz der Schließung von Restaurants, teilte der Bauernverband Coldiretti mit. Rund zwei Kilogramm habe jeder Einwohner dadurch durchschnittlich an Gewicht zugelegt. Und auch aus China hatte bereits Mitte April die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua besorgt vermeldet, dass gar 73 Prozent der 3 000 in Wuhan und Umgebung befragten Erwachsenen angegeben hätten, zugenommen zu haben. Die Gründe sind in allen drei Ländern dieselben und wenig überraschend: mangelnde Bewegung und eine nicht verringerte, sondern eher gesteigerte Nahrungsaufnahme in der häuslichen Isolation.
In den 36 ärmsten Ländern könnte die Anzahl unterernährter Kinder um bis zu 20 Prozent im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie steigen.
Während also in den Zentren der Weltökonomie für viele Menschen eine Diät anstehen dürfte und in den kommenden Monaten und Jahren vermehrt mit dem Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Arthrose oder Bluthochdruck gerechnet werden muss, stellt sich die Situation in der Peripherie völlig anders dar. Schon Ende April hatte David Beasley, Leiter des Welternährungsprogramms (World Food Programme, WFP) der Vereinten Nationen, im UN-Sicherheitsrat vor einer drohenden Katastrophe vor allem auf dem afrikanischen Kontinent gewarnt: »Während wir jetzt eine Coronapandemie erleben,« so der ehemalige Gouverneur von South Carolina, »ist die Welt am Rande einer Hungerpandemie.« Beasley bezog sich dabei auf eine vom WFP erstellte und kurz zuvor in Rom vorgestellte Studie, der zufolge »weitere 135 Millionen Menschen mit schwerem oder extremem Hunger konfrontiert« und »aufgrund des Coronavirus bis Ende 2020 zusätzlich 130 Millionen Menschen an die Schwelle des Verhungerns gedrängt werden könnten«. Unter den 36 Ländern, für die ein teilweise dramatischer Anstieg der Hungernden erwartet wird, sind der Jemen, Indien, Afghanistan, Pakistan, Kenia, der Sudan und eine ganze Reihe westafrikanischer Staaten. Dort könnte auch die Anzahl unterernährter Kinder um bis zu 20 Prozent steigen. Eindringlich warnte die WFP-Direktorin für Ernährung, Lauren Landis, vor »verheerenden Verlusten an Leben, Gesundheit und Produktivität« für die heranwachsende Generation. Die Coronakrise »trifft mit voller Wucht auf eine bereits sehr fragile Ernährungssituation«, teilten Oxfam, Care und viele weitere internationale Nichtregierungsorganisationen in einer gemeinsamen Presserklärung im April mit. Es sei zu erwarten, dass mehr Menschen infolge der verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sterben würden als an der Krankheit selbst, heißt es darin. Schnelle Hilfe tut also not. Zwei Milliarden US-Dollar soll das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA) daher sammeln, um die Ernährungskrise zumindest ansatzweise in den Griff zu bekommen. Bis zu 600 Millionen Euro will allein das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zusätzlich zu den 200 Millionen Euro aus dem regulären Etat des Corona-Sofortprogramms durch einen Nachtragshaushalt bereitstellen. Als »ermutigend« bezeichnete zuletzt Jens Laerke, der Sprecher des OCHA, die bereits geleisteten Zahlungen einiger Staaten.
Ob dies reichen wird, ist zu bezweifeln. Denn die Ursachen des Hungers sind so vielschichtig und die Probleme so tiefgreifend, dass an eine wirkliche Lösung kaum zu denken ist. So ist ein Ende der Kriege und Bürgerkriege etwa im Jemen, in Afghanistan oder Syrien nicht in Sicht. Hinzu kommt die schlimmste Heuschreckenplage seit Jahrzehnten: Von der Arabischen Halbinsel bis nach Zentralasien und vor allem in Ostafrika sind auf mehr als 2,25 Millionen Hektar Agrarfläche die Ernten zerstört oder geschädigt worden. Allein für Ostafrika schätzt die Welthungerhilfe die Zahl der in direkter Folge der Plage Hungernden auf bis zu 25 Millionen Menschen. Schon dies hatte zu einer Verteuerung der Lebensmittelpreise geführt, insbesondere auf den regionalen Märkten.
Diese Entwicklung ist durch die Covid-19-Pandemie weiter verstärkt worden. Bereits im März hatten diverse nahrungsmittelexportierende Staaten Ausfuhrbeschränkungen bis hin zu kompletten Stopps beschlossen, was die Lebensmittel global verknappte und zu einem schnellen Preisanstieg führte. Vietnam, der drittgrößte Reisexporteur der Welt, hat im März einen kompletten Exportstopp für das Getreide verfügt, ebenso Kasachstan für Weizen. Russland führt kein verarbeitetes Getreide mehr aus und hat die Verkäufe von Weizen, Gerste oder Mais stark reduziert.
Bereits zu Beginn der Krise hatte Abdolreza Abbassian, der leitende Ökonom der Welternährungsorganisation (Food and Agriculture Organization, FAO), vor einer »globalen Nahrungsmittelkrise« durch Verknappung des Angebots und Panikkäufe solventer Staaten gewarnt. Genau so kam es trotzdem. In Europa, den USA, aber auch diversen arabischen und asiatischen Staaten wurden Lebensmittel in großem Maße aufgekauft und eingelagert. Wenn auch regional sehr unterschiedlich, sind die Weltmarktpreise für Fleisch und Käse in den Monaten März bis Mai nach Angaben der FAO um durchschnittlich 17 Prozent gestiegen, die für Obst und Gemüse um 14 und 26 Prozent. Selbst an den US-amerikanischen und europäischen Terminmärkten waren schon im März die Weizenpreise um sechs beziehungsweise über zehn Prozent gestiegen – und dies, obwohl die USA als weltgrößter Produzent ebenso wie viele EU-Staaten gar nicht auf Importe angewiesen sind.
Viele ärmere Länder leiden besonders unter dem Zusammenbruch von internationalen Lieferketten, obwohl das vorhersehbar war. Schon Mitte März hatte FAO-Chefökonom Maximo Torero Cullen gewarnt, es müsse alles getan werden, um diese Lieferketten »intakt, flexibel und effizient zu halten«, die durch die Kommerzialisierung der Landwirtschaften und der mit ihr einhergehenden Förderung des Anbaus von Monokulturen an Bedeutung für die Ernährungssicherheit gewonnen haben. Doch weil das nicht geschah, mussten in den USA oder Europa große Mengen verfaulter, liegengebliebener Lebensmittel vernichtet werden, etwa Kartoffeln in Belgien oder Gemüse in Frankreich oder den Niederlanden. In den USA mussten etwa zehn Prozent der produzierten Milch weggekippt werden. Um die Folgen dieser derzeit zum Glück leicht rückläufigen Entwicklung zu erkennen, lohnt ein Blick nach China, dem größten Importeur von Nahrungsmitteln. Dort stiegen bereits im Februar amtlichen Zahlen zufolge die Nahrungsmittelpreise um durchschnittlich 21,9 Prozent, die für Schweinefleisch gar um 135,2 Prozent.
Diese Preissteigerungen treffen vor allem in Afrika eine Bevölkerung, die wegen der Pandemiemaßnahmen zusehends verarmt (Jungle World 20/2020). Auch wenn kaum aktuelle Zahlen vorliegen, dürften insbesondere im informellen Sektor, in dem etwa in Indien 80 Prozent der nichtbäuerlichen Erwerbstätigen schuften, Hunderte Millionen Menschen ihr Einkommen verloren haben. Schulschließungen nehmen zudem vielen Kindern ihre einzige sichere Mahlzeit am Tag. Nach den Zahlen der WFP betrifft dies weltweit annähernd 370 Millionen Kinder, 300 Millionen davon in Afrika.
Dabei wären eigentlich genügend Nahrungsmittel vorhanden. Die weltweite Produktion von Reis und Weizen – den wichtigsten und meistgehandelten Grundnahrungsmitteln – soll nach Angaben des US-Landwirtschaftsministeriums in diesem Jahr den Rekordausstoß von 1,26 Milliarden Tonnen erreichen. Allerdings geht die Behörde auch davon aus, dass 469 Millionen Tonnen davon zunächst gelagert würden, was die Preise auf hohem Niveau halten und zu allerlei Marktspekulationen Anlass geben dürfte. Und so könnte die Spaltung der Welt in der Nach-Pandemie-Krise sich sehr deutlich zeigen: Den Abspeckkuren für die Bewohner industriealisierter Länder und für die Privilegierten weltweit könnten wie 2007 und 2008 Hungerrevolten der »Verdammten dieser Erde« (Frantz Fanon) gegenüberstehen.