Sexualisierte Gewalt kann nur mit einer anderen Konfliktkultur bekämpft werden

Eine bessere Konfliktkultur aufbauen

Restaurative und transformative Praktiken sind keine Ad-hoc-Methoden für bereits geschehene Übergriffe. Ihrer Anwendung setzt eine grundsätzliche Haltungsänderung voraus.
Disko Von

diskoUnter anderem hinterfragte Bettina Wilpert gängige Methoden zur Bewältigung des Problems (Jungle World 23/2020), die Gruppe e*space plädierte für langfristige Konzepte im Umgang mit Gewalt und Übergriffen (26/2020) und Kim Posster forderte, Männer müssten bei der Bekämpfung sexualisierter Gewalt Verantwortung übernehmen (28/2020).

Die Art, wie mit Übergriffen – ob sexualisierter oder anderer Art – in linken Kreisen umgegangen wird, offenbart neben Betroffenheit und Entsetzen oft große Hilflosigkeit, die meist mit rigoroser Symptombekämpfung zu Lasten der sogenannten Täter kaschiert werden soll. Dabei kommen die von Übergriffen Betroffenen oft zu kurz. Die bisherigen Umgangsweisen können als gescheitert gelten. Das Problem ist immer noch da, man weiß immer noch nicht so recht, wie man damit umgehen soll, und meistens gerät beim Versuch, die Lage trotzdem zu meistern, alles aus den Fugen.

Wir haben nicht gelernt, Kritik zu hören, aber auch nicht, sie so auszudrücken, dass sie gehört und angenommen werden kann.

Es braucht also etwas anderes, wie dies die vorherigen Diskussionsbeiträge bereits mehrfach deutlich gemacht haben. Ich muss gestehen, dass mich diese in ihrer Qualität und Herangehensweise positiv überrascht haben, denn sie haben leider wenig mit dem zu tun, was ich als Praxis in linken Räumen erlebe. Der Umgang mit den »Fällen« in meinem Umfeld schien eher von einer problematischen Interpretation des Definitionsmachtprinzips inspiriert zu sein: Die Beschuldigten wissen nicht einmal, was sie eigentlich getan haben sollen. Sie werden aus den Strukturen ausgeschlossen und sollen darüber nachdenken, was sie wohl falsch gemacht haben, bis sie von selbst darauf kommen. Als vehemente Gegnerin der Strafjustiz muss ich zugeben, dass es dort fortschrittlicher zugeht – wenigstens erfährt man, wofür man angeklagt ist. Dazu kommt die fragwürdige Herangehensweise, selbst Freundinnen und Bekannte von Beschuldigten auszuschließen oder von ihnen den Abbruch der Beziehung zum Beschuldigten zu fordern. Was dieser gemacht haben könnte, wissen sie ja noch weniger und können sich so nur zwischen »Betroffenenunterstützung« und »Täterschutz« entscheiden. Zu einer echten Auseinandersetzung mit den Taten trägt dies nicht bei, vielmehr richtet es zusätzlichen Schaden an.

Die Konzepte der transformativen und restaurativen Gerechtigkeit weisen einen wunderbaren neuen Weg. Restorative justice ist eine Methode zur Verhandlung eines konkreten Konflikts, transformative justice beinhaltet die langfristige Arbeit in einer community und die Unterstützung der Betroffenen. Die Konzepte haben viele Grundannahmen und Herangehensweisen gemeinsam. Doch noch bevor transformative justice in Deutschland wirklich erprobt wurde, ist der Ansatz nach dem gescheiterten Versuch der Organisatoren des Festivals »Monis Rache« (Jungle World 8/2020), sie anzuwenden, schon in Verruf geraten. Verhängnisvolle Missverständnisse sowie politische und kulturelle Barrieren stehen einer produktiven Anwendung von restaurativen und transformativen Praktiken entgegen. Das hat neben der in den bisherigen Beiträgen bereits mehrfach erwähnten fehlenden Selbstreflexion bei allen Beteiligten vor allem etwas mit Konfliktkultur zu tun.

Die beste Lösung ist immer die Prävention, leider fließt aber die meiste Energie – in der Linken wie in der Gesellschaft – in die Bekämpfung der Symptome. Zu einer guten Prävention sexualisierter Gewalt gehört eine aufgeklärte und selbstbewusste Sexualkultur, denn die meisten Übergriffe passieren zwischen Leuten, die sich kennen. Sie könnten mit einem besseren Verständnis des eigenen Begehrens, der eigenen Wünsche und Grenzen sowie einer guten Kommunikation darüber verhindert werden.
Es geht aber nicht nur um sexuelle Kommunikation, sondern auch darum, wie man Kritik äußert. Es ist schwer, Menschen, die man mag, zu kritisieren: Man will sie nicht verletzen, befürchtet (zu Recht), dass sie mit Verteidigung oder einem Gegenangriff reagieren und man somit letztlich nicht gehört wird. Damit wäre man gescheitert: Man hätte zwar etwas gesagt und ein reines Gewissen, aber nichts erreicht. Wir haben nicht gelernt, Kritik zu hören, aber auch nicht, sie so auszudrücken, dass sie gehört und angenommen werden kann. Das kann man zwar lernen, es bedarf aber einer Haltungsänderung.

Diese beginnt damit, dass man den Menschen und seine Handlung trennt. Niemand ist, wie Bilke Schnibbe in ihrem Beitrag schreibt, »ein misogynes Arschloch« (Jungle World 24/2020). Dieses Label möchte niemand tragen, also werden alle versuchen, den Vorwurf so weit wie möglich von sich zu weisen. Menschen haben viele verschiedene Seiten, diese Komplexität, die mitunter geradezu widersprüchlich ist, gilt es wahrzunehmen und zu würdigen. Das heißt, die Handlung zu kritisieren, aber nicht die Person. Ich nenne das gerne »Schimpfen und dabei Händchen halten«, der Fachbegriff lautet restorative shaming. Wenn ich den anderen grundsätzlich als wertvolles Mitglied der Menschheit anerkenne, während ich ihm zeige, wo er mich verletzt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass er mich hört. Dazu gehört auch, von meiner Verletzung zu reden, statt moralische Urteile auszusprechen. Diese Information kann auch für die Selbstauseinandersetzung der beschuldigten Person wertvoll sein. Oft ändert sich die Dynamik eines Gesprächs, wenn die beschuldigte Person beginnt, Empathie mit ihrem »Opfer« zu empfinden. Die dabei entstehenden Schuld- und Schamgefühle müssen allerdings auch aufgefangen werden, weil sie sonst Abwehrreaktionen hervorrufen können. Daher ist es hilfreich, wenn es ein Umfeld gibt, in dem Beschuldigte sich an ihr Inneres heranwagen können und empathische kritische Begleitung erfahren. In echtem Kontakt kann ich mich konfrontieren, weil ich mir sicher sein kann, dass die anderen mich nicht fallenlassen.

Es geht um die Frage, ob wir miteinander in Kontakt kommen wollen, um gemeinsam weiterzukommen. Zum community building gehört auch die Erkenntnis, dass wir alle Teil der Kultur und der gesellschaftlichen Struktur sind, die die problematisierte Handlung hervorgebracht hat und die Auseinandersetzung mit ihr verhindert – eine der Grundannahmen der transformative justice. Auch ich habe schon viele Grenzverletzungen erlebt und begangen: aus Unkenntnis, Scham oder Nachlässigkeit. Eine offene Aus­einandersetzung darüber würde uns weiter- und einander näherbringen. Wir würden merken, dass das Thema zu komplex ist und wir zu stark verstrickt sind, um leichtfertig mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es gibt keinen »Club der besseren Menschen«, aus dem man nur jemanden hinauswerfen muss, damit alles ist wieder in Ordnung ist.

Außerhalb der linken Blase gibt es bereits eine Menge Erfahrung und Forschung zum Thema restaurative Gerechtigkeit bei sexualisierter Gewalt, zum Beispiel das EU-finanzierte Forschungsprojekt »Daphne« und Forschung dazu, wie solche Methoden als Alternative zur Strafjustiz eingesetzt werden können. Dabei hat sich gezeigt, dass das Umfeld der Betroffenen oft seine Vorstellungen davon durchsetzen will, was angebracht ist, statt tatsächlich der betroffenen Person Raum zu geben. Bei der Unterstützung ist es zudem wichtig, mit den Dynamiken häuslicher Gewalt, etwa dem Schwanken zwischen Reue und Wiederholung, sowie mit Vergewaltigungsmythen vertraut zu sein. Auch der Schutz der Betroffenen während einer bestimmten Phase und ausreichend Zeit haben sich als wichtig erwiesen.

Von diesen Erfahrungen könnte die Linke lernen, um selbst Ansätze jenseits von Polizei- und Straflogik zu finden. Dafür braucht man, anders als Bettina Wilpert (Jungle World 23/2020) vorgeschlagen hat, keine geschulten Fachleute, im Gegenteil: Die Professionalisierung Einzelner nährt die Vorstellung, die Lösung der Probleme könne ausgelagert werden, als hätte das alles nichts mit einem selbst und der eigenen community zu tun. Sich in Konflikten von in den Techniken erfahrenen Personen begleiten und beraten zu lassen, ist nützlich und sinnvoll, aber diese können nicht die Konfliktlösung »machen«. Nötig sind vielmehr ein kollektiver Aufbruch, um eine andere Konflikt- und Kommunikationskultur zu erreichen, und das gemeinsame Erlernen neuer Methoden. Da es um Grundsätzliches geht, wird der Weg dahin ein längerer sein. Ohne Rahmen kein Kreis, heißt es im Kontext des Konfliktlösungsmodells restorative circles. Der Kreis ist dabei der Ort der Aussprache eines konkreten Konflikts. Der Rahmen beschreibt die Konfliktkultur einer Gruppe oder community. Diese Konfliktkultur muss erarbeitet werden, bevor ein Konflikt eskaliert, und so sein, dass sie den Kreis halten kann. Alles andere ist zum Scheitern verurteilt und man bekommt Ergebnisse wie die bei »Monis Rache«.