Immer mehr Israelis protestieren gegen das Krisenmanagement ihrer Regierung

Ankündigungen im Stundentakt

Viele Israelis sind unzufrieden mit dem Krisenmanagement ihrer Regierung. Tausende demonstrierten vergangene Woche in Tel Aviv und Jerusalem. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu stellte indes ein weiteres Hilfsprogramm für die Bevölkerung vor.

In immer neuen Protesten entlädt sich auf den Straßen Israels derzeit der Frust der Bevölkerung über den Umgang der Regierung mit der Covid-19-Pandemie und deren wirtschaftlichen Folgen. Bei mehreren Demonstrationen in Jerusalem und Tel Aviv, an denen teils Tausende teilnahmen, kam es vergangene Woche auch zu gewaltsamen Ausschreitungen. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein und nahm Demonstranten fest. In Anbetracht hoher Arbeitslosigkeit, wachsender Armut und eines deutlichen Anstiegs der Infektionszahlen kritisierten die Demonstranten die Planlosigkeit einer Regierung, die es nicht schafft, den Menschen einen Weg aus der Krise zu weisen, und die den Kontakt zur Bevölkerung verloren zu haben scheint.

Die Kritik richtet sich vor allem gegen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu von der Partei Likud. Der muss sich seit Mai wegen Vorwürfen der Bestechlichkeit, des Betrugs und der Veruntreuung vor dem Bezirksgericht Jerusalem verantworten. Er ist damit der erste israelische Ministerpräsident, der während seiner Amtszeit vor Gericht steht. Die Antikorruptionsproteste, die seit einiger Zeit regelmäßig vor seiner Residenz in Jerusalem stattfinden, scheinen immer mehr mit den Demonstrationen gegen den Umgang der Regierung mit der Coronakrise zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung gegen Netanyahu zu verschmelzen. Dessen Zustimmungswerte sind in den vergangenen Monaten deutlich gesunken. In einer am 12. Juli veröffentlichten ­repräsentativen Umfrage gaben 61 Prozent der Befragten an, unzufrieden mit dem Ministerpräsidenten zu sein. Noch am 21. April waren es nur 32 Prozent.

Die Hilfsprogramme, die die Regierung beschlossen oder angekündigt hat, um die Menschen in der Krise wirtschaftlich zu unterstützen, lassen die Proteste nicht abflauen – wohl auch deswegen, weil die tatsächlich überwiesenen Beträge oft hinter den Erwartungen zurückblieben, die der Ministerpräsident geweckt hatte, als er die Zahlungen bei Live-Auftritten im Fernsehen vollmundig ankündigte. Am Mittwoch voriger Woche stellten Netanyahu und Finanzminister Israel Katz (Likud) ein neues, sechs Milliarden Schekel (rund 1,5 Milliarden Euro) umfassendes Hilfsprogramm vor. Zunächst hieß es, jeder Bürger solle einkommensunabhängig umgerechnet 190 Euro erhalten. Da dies weder mit dem Koalitionspartner Blau Weiß noch mit der Finanzverwaltung abgesprochen war, musste nachverhandelt werden. Am Montagmittag teilte die Pressestelle der Regierung mit, die zuständigen Minister hätten sich darauf ge­einigt, kein Geld an Bürger mit einem Einkommen von mehr als 165 000 Euro und an Beamte mit einem Monatseinkommen von über 7 500 Euro auszuzahlen. Bestimmte Bevölkerungsgruppen, etwa über 67 Jahre alte Arbeitslose und bedürftige Migranten, die sich seit mindestens zwei Jahren im Land aufhalten, sollen mehr Geld erhalten als ursprünglich geplant. Noch ist unklar, wann das Geld ausgezahlt werden kann. Der Journalist Matan Hodrov sagte am Montagabend in einer Nachrichtensendung: »Die Knesset wird erst nächste Woche damit beginnen, sich mit dem Gesetz zu befassen. Falls Sie das Geld für diesen Monat eingeplant haben sollten, um Waren zu bestellen und die Wirtschaft zu unterstützen, sollten Sie mit dem Shopping lieber bis nächsten Monat warten.«

Es ist mittlerweile zur Routine geworden, dass Netanyahu Schritte öffentlichkeitswirksam in nach der Sendezeit der Nachrichtensendungen getakteten Pressekonferenzen ankündigt, bevor er sie den zuständigen politischen Gremien zur Beratung vorlegt. Deshalb müssen immer wieder Dinge zurückgenommen oder nachverhandelt werden. Das gilt nicht nur für die Verteilung von Hilfsgeldern, sondern auch für das Vorgehen gegen die Ausbreitung des Virus. So erfuhr Bildungsminister Yoav Galant (Likud) vergangene Woche aus den Medien, dass Sommerschulen und Ferienlager umgehend geschlossen werden sollen. Am nächsten Tag hieß es dann, man habe sich in einer nächtlichen Kabinettssitzung nicht einigen können. Die Schulen blieben daher zunächst geöffnet. Bis wann, ist jedoch unklar – darüber wird noch verhandelt. Medienberichte über den Stand der Gespräche lassen stündlich etwas anderes vermuten. Die Eltern wissen derweil nicht, ob sie am nächsten Tag zur Arbeit gehen können oder ihre Kinder betreuen müssen. »Es ist einfach frustrierend. Es gibt keine Routine. Ich weiß nicht, was in einer Stunde sein wird, ich weiß nicht, was nächste ­Woche passiert. Ich weiß nicht, ob ich zur Arbeit gehen kann oder nicht«, sagte eine Mutter dem Fernsehsender Keshet 12.
Keiner weiß derzeit, ob das, was heute angekündigt wird, morgen noch gilt, ob Betriebe schließen müssen oder öffnen dürfen und auf welche Art von ­Betrieb sie sich einstellen sollen. Dieses Chaos hat das in der Bewältigung von Notsituationen wahrlich erprobte Land in eine seiner schlimmsten Krisen geführt. Der Journalist Amnon Abramovich sagte in einer Nachrichtensendung: »Mit so einer Regierung hätten wir weder den Sechstagekrieg noch die zweite Intifada überstanden. Vermutlich wäre es 1948 nicht einmal zur Staatsgründung gekommen.«

Die anfangs sehr restriktiven Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie reduzierten die Infektionszahlen im Land zwar stark, ließen aber die Arbeitslosigkeit von weniger als vier Prozent im Februar auf knapp 28 Prozent Ende April ansteigen. Das war ein hoher und schmerzhafter Preis für einen Erfolg, der dann durch die überhastete Lockerung der Beschränkungen verspielt wurde. Inzwischen wurden neue Beschränkungen und Ausgangssperren verhängt (Jungle World 29/2020). Doch die Wirtschaft kann das kaum noch verkraften. Die Arbeitslosenquote ist mit über 21 Prozent immer noch sehr hoch. Private finanzielle Reserven, sofern es sie überhaupt gab, wurden größtenteils während der Phase der ersten Beschränkungen aufgebraucht. ­Gefragt wäre nun eine sorgsam koordinierte Strategie, die epidemiologische und wirtschaftliche Faktoren abwägt und den Menschen sagt, worauf sie sich in den nächsten Wochen einstellen sollen.

Doch stattdessen reagiert die Regierung ad hoc und teilt oftmals im Stundentakt neue Beschlüsse mit, die sofort wieder zurückgenommen werden. So geschah es zum Beispiel am Freitag. Am Morgen verkündete die Regierung, Restaurants müssten umgehend schließen. Doch die Gastronomen hatten ­bereits verderbliche Waren eingekauft, viele Restaurantbetreiber kündigten an, sich der Anordnung zu widersetzen. Wenige Stunden später teilte die Regierung mit, die Restaurants dürften doch noch bis Dienstag geöffnet bleiben. Aber da hatten bereits über 20 000 Israelis ihre Reservierungen storniert. Viele Gastronomen hatten ihre Mitarbeiter nach Hause geschickt und ihre ­Lebensmittel verschenkt.
Ähnliche Erfahrungen machen derzeit die Betreiber von Fitnessstudios, Schwimmbädern, Veranstaltungssälen, Friseursalons und viele andere. Auch da zuverlässige Daten über die Ausbreitung des Virus fehlen, werden die ­Entscheidungen von politischen Machtkämpfen anstatt von wissenschaftlichen Vorgaben geleitet. Ein Problem ist, dass es viel zu wenige Epidemiologen gibt – in Israel kommt einer auf 300 000 Einwohner, in Deutschland einer auf 4 000. Die Pflegekräfte in den Krankenhäusern klagen über Personalmangel. Am Montag streikten sie.

Gleichzeitig leistet sich die israelische Regierung das größte Kabinett in der Geschichte des Landes. 36 Ministerinnen und Minister gehören ihm an; das übersteigt die Zahl der Ministerien. So gibt es auch Minister, die keinem ­Ministerium vorstehen und vor allem am Kabinettstisch sitzen, um bei den Abstimmungen die gewünschten Mehrheiten herbeizuführen. Einer von ­ihnen ist der Likud-Politiker Tzachi Hanegbi. Er sorgte Anfang Juli für einen Eklat, als er in einer Talkshow die Aussage des Moderators, viele Menschen in Israel litten mittlerweile an Hunger, als »Unsinn« abtat. In den folgenden ­Tagen waren die Nachrichtensendungen voll mit Berichten über Menschen, ­denen es am Nötigsten fehlt. Hanegbi entschuldigte sich öffentlich.
Nach Angaben der Wirtschaftszeitung Calcalist stieg die Zahl der Menschen, die sich mit der Bitte um Lebensmittelspenden an die Hilfsorganisation Latet wenden, von März bis Mai 2020 um 116 Prozent. Die Zahl der Hilfsbedürftigen, die Suppenküchen der Hilfsorganisation L’Shova in Anspruch nehmen, habe seit dem Ausbruch der Pandemie sogar verfünffacht. In dieser Situation lässt sich Netanyahu eine umstrittene Steuerrückzahlung in Höhe von mehreren Hunderttausend Schekel vom ­Finanzausschuss der Knesset genehmigen. Dass dieses Geld derzeit woanders wesentlich dringender gebraucht würde, ist nicht mehr nur die Meinung der traditionellen linken Gegner Netanyahus. Die Demonstrationen in Jerusalem und Tel Aviv scheinen Menschen aus den unterschiedlichsten politischen Lagern in ihrer Wut auf den Ministerpräsidenten zu vereinen.