Es gibt Paralellen zwischen dem Film »The King of Staten Island« und und der Serie »Sex and the City«

Der Apatow-Test

Judd Apatow lässt in seinem neuen Film »The King of Staten Island« über einen selbsthassenden Teenager wieder einmal den feministischen Traum von Männern, die über ihre Gefühle reden könne, wahr werden.

Eines von vielen Anliegen des emanzipatorischen Feminismus ist es, dass Männer lernen, ihr Verhalten zu reflektieren und über ihre Gefühle zu sprechen. Wenn Männer ihr Handeln und Denken hinterfragten und Bedürfnisse besprechen lernten, könnte die Welt für alle ein besserer Ort sein, so die Annahme.

Apatows Figuren wissen, dass erfolgreiche Stand-up-Acts traditionell die eigenen Unzulänglichkeiten zur Schau stellen. Man muss sich verwundbar machen können. Apatow selbst nennt Stand-up »the art form of being terrified«: die Kunst, verängstigt zu sein.

Es ist das Schöne am Film, dass er eine Welt ausmalen kann, in der Anliegen wie diese erfüllt sind. Und wie man an Produktionen von Judd Apatow sehen kann, ist diese Welt weniger utopisch als angenommen. Der jüdisch-amerikanische Autor, Komiker, Stand-up-Comedian, Regisseur und Produzent hat sich konsequent dieser Vision einer Welt verschrieben, in der Reden über Verletzungen, innere Konflikte und Gefühle selbstverständlich ist. Ein Beispiel dafür ist die Serie »Girls«.

2011 schrieb Apatow Lena Dunham, hingerissen von deren Debütfilm »Tiny Furniture«, eine E-Mail, und bot eine Zusammenarbeit an. Als Co-Autor und ausführender Produzent gab er Dunham alle Freiheiten, um ihr ganzes Potential entfalten zu können. Heraus kamen sechs Staffeln jener liebevollen feministischen Persiflage der Generation Y.

In der ersten Folge sieht man ein Plakat der Serie »Sex and the City« in einer Frauen-WG hängen. Im Smalltalk darüber wird die Vorbildfunktion der vier Protagonistinnen dieser Serie für die ebenfalls in New York lebenden jungen Frauen in »Girls« deutlich; Dunham und Apatow zeigen, an welche Tradition sie anknüpfen.
In Apatows neuem Film »The King of Staten Island«, bei dem er als Produzent, Co-Autor und Regisseur fungiert hat, spielt der bisher als rüpelhaft verkannte Stand-up-Comedian Pete Davidson die Hauptrolle. Auf dessen Leben beruht auch das Drehbuch: 1993 in New York geboren, wuchs Davidson als Sohn einer Krankenschwester und eines Feuerwehrmanns im neben der Bronx ärmsten Bezirk der Stadt auf: Staten Island. Sein Vater starb beim Feuerwehreinsatz am World Trade Center nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Traumatisiert von den Ereignissen wurde Davidson als Teenager autoaggressiv, suizidal und chronisch krank, er leidet unter Morbus Crohn, einer Darmentzündung. Laut eigenen Aussagen halfen ihm Cannabis, Rap und Comedy, sein Leben durchzustehen.

Wie in allen Filmen von Apatow beginnt die Hauptfigur an einem Tiefpunkt, ist beziehungsunfähig, kann sich nicht einmal selbst lieben. Davidson spielt Scott Carlin, dessen Selbsthass und ewiges Gallespeien, mit denen er noch die schönsten Filmmomente vergiftet, schwer auszuhalten wären, wären diese sarkastischen Zoten und zynischen Spitzen nicht verpackt in komische Gespräche oder kaskadenartige Wuttiraden, in denen sich alle Figuren zu ihren Gefühlen und Einsichten bekennen. Den erzählerischen Rahmen für Scotts permanente Sticheleien liefert dessen Hobby und Karrieretraum, das Tätowieren. Damit kompensiert Scott buchstäblich seinen Drang, sich selbst und andere zu verletzen.

Wenn Scott mit Ray (Bill Burr), dem neuen Freund seiner Mutter Margie (Marisa Tomei), aneinandergerät, rumort es beim Zusehen im Bauch. Die drei Improvisationstalente Davidson, Burr und Tomei liefern eine ­bedrückend wuchtige Darstellung einer zerrütteten weißen Familie ab. Solche Verhältnisse sind auf Staten Island nicht selten; das jährliche Bruttosozialprodukt liegt pro Kopf bei 30 000 US-Dollar. Während in New York City die Scheidungsrate insgesamt sinkt, steigt sie in den Bezirken Bronx und Staten Island. Es ist Apatows Autorentalent zu verdanken, dass Davidsons Geschichte als Komödie funktioniert, auch wenn sie nicht in Apatows üblichem Terrain, der seichten Medien- und Entertainmentwelt, spielt.

Apatows fiktive Komiker und Comedy-Autoren sind, da er selbst vom Fach ist, seine besten Figuren. In »Beim ersten Mal« und »Wie das Leben so spielt« inszenierte er das Schreiben und Vorlesen von Witzen als Selbsthilfe für sozial minderbemittelte Männer. Improvisierte Steilvorlagen von Darstellern wie Seth Rogen, Adam Sandler oder Jonah Hill werden oft mit noch besseren Pointen gekontert. Trifft einer einen wunden Punkt, werden verletzte Gefühle ganz selbstverständlich ausgesprochen. Apatows Figuren wissen, dass erfolgreiche US-amerikanische Stand-up-Acts traditionell die eigenen Unzulänglichkeiten zur Schau stellen. Mann muss sich verwundbar machen können. Apatow selbst nennt Stand-up »the art form of being terrified«: die Kunst, verängstigt zu sein. Um zum komischen – und damit erträglichen – Kern seiner eigenen Existenz vorzudringen, muss man sich durch die eigene Lächerlichkeit arbeiten, muss man von der Schwermut zur Leichtfüßigkeit finden und lernen, über sich zu lachen. Das ist die Grundlage guter Comedy und beschreibt die Entwicklung, die jeder Protagonist bei Apatow durchmacht. Deshalb ist es nicht Spleen, sondern Prinzip, wenn Apatow in »The King of Staten Island« mit Burr und Davidson wieder zwei zentrale Rollen mit Stand-up-Komikern besetzt.

Peniswitze sind ein wiederkehrendes Motiv in Apatows Filmen. Es scheint, dass alle auftretenden Männer große Schwänze haben, denn sie machen sich gern gegenseitig Komplimente dafür. Dass sie frei von Sorgen über eigene anatomische Unzulänglichkeiten scheinen, ist offenbar die Voraussetzung dafür, dass Apatows Männer in allen seinen Filmen über ihre Gefühle reden können und untereinander körperliche Nähe ertragen. Sie nehmen sich in den Arm, sie teilen homoerotische Geschichten und tasten sich im Notfall sogar gegenseitig die Eier auf Hodenkrebs ab.

In »The King of Staten Island« hat Scott Carlin Potenzprobleme, ist mit diesen aber im Reinen. Was ihn umtreibt – und das sagt er offen –, ist sein Kopf. Es ist buchstäblich zum Heulen, wenn man zuschaut, wie er Erkenntnisse über seine kranke Psyche aus seinen Gedanken herausschält. Als er nach einer Party seiner Schwester ganz selbstverständlich sagt, dass er viel zu dumm fürs College sei, ist der innere Schmerz hinter dieser Beiläufigkeit dennoch so spürbar wie einst bei Amy Schumer in Apatows Film »Dating Queen«. In diesem temporeichsten aller ­seiner Filme sitzt eine durch Alkohol ruinierte Frau bei ihrer Schwes­ter und sagt den Satz »I can see me now« in solch rührender Weise, dass es einem Tränen in die Augen treibt.

In Apatows erstem Film »Jungfrau (40), männlich, sucht … » (der wie alle Filme Apatows unter der deutschen Synchronisation leidet, da sich der deutsche Gehässigkeitshumor einschleicht) spielte Steve Carell einen schüchternen Mann, der wenig Wert auf Sex legt und dessen Arbeitskollegen sich seiner mit Flirttipps und Sexberatung annehmen. Allein, wie selbstverständlich er in den Freundeskreis aufgenommen wird, ist berührend. Doch die Berater haben selbst ihre Probleme und eine Nebenfigur, gespielt von Seth Rogen, buchstabiert es aus: »But Dad, I don’t know how to love. You never taught me how.« Mit ihm beginnt bei Apatow eine Folge von Männerfiguren, die mindestens einmal pro Film sagen: »I don’t know how someone could love me.« Nicht als eine kurze Episode des Selbstzweifels, sondern stets als Ausdruck traumatischer Verunsicherung oder als Resultat eines reflektierten Gegenüberstellens der Lebenssituationen in der Partnerschaft, das die Autonomie und Bedürfnisse der Frau mitdenkt. Auch Lena Dunham sagt das schon in der ersten Folge von »Girls«.

Ersetzt man Videospiele durch Essengehen, tauscht man Bongs gegen Schuhe aus und Witzeschreiben gegen Kolumnenjournalismus, erkennt man, dass Judd Apatows Filme »Sex and the City« für den Mann sind. Doch bis auf die Figuren von Amy Schumer und Leslie Mann (Apatows Ehefrau, die in mehreren seiner Filme auftritt) sind weibliche Rollen bei Apatow wenig komplex.

Wie verfährt man mit Filmen, die nicht gerade mit überzeugenden Frauenfiguren bestechen, aber eine Filmwelt zeigen, in der mit ewig kindsköpfigen und schwer verunsicherten Figuren zwar nicht gerade die feministische Wunschvorstellung des reflektierten, gefühlvollen Manns einlösen, aber wenigstens überkommene Ideale von Männlichkeit hinter sich lassen? Kann neben dem bekannten Bechdel-Test ein Apatow-Test stehen, der danach fragt, ob erstens ein Mann seine Gefühle ausdrücken kann und zweitens einem anderen Mann hilft, das zu lernen, und drittens dessen damit gelöster Konflikt jenseits der Beziehungsanbahnung liegt? Denn wie alle Filme von Apatow ist auch »The King of Staten Island« trotz seiner Bitterkeit ein Spaß, wenn man mit feministischer Milde bereit ist, das als Grundlage anzuerkennen.

The King of Staten Island. Buch: Judd Apatow, Pete Davidson, Dave Sirus. Regie: Judd Apatow. Darsteller: Pete Davidson, Marisa Tomei, Bill Burr, Bel Powley, Maude Apatow, Steve Buscemi