Vor 100 Jahren prägte Adolf Hitler in einer Rede die nationalsozialistische Vorstellung von Arbeit

Hitler im Hofbräuhaus

In einer seiner ersten vollständig dokumentierten Reden agitierte der spätere »Führer« mit der nationalsozialistischen Vorstellung von Arbeit.

Vor 100 Jahren, am 13. August 1920, versuchte Adolf Hitler in einer Rede, die Frage zu klären: »Warum sind wir Antisemiten?« Die NSDAP hatte in den Festsaal des Münchner Hofbräuhauses geladen. Der als begabtester Redner der Partei geltende Hitler behandelte allerdings nicht so sehr die »Judenfrage«, sondern beschäftigte sich vielmehr damit, was die Nationalsozialisten unter Arbeit verstehen sollten.

Für die nationalsozialistische Arbeitsauffassung besteht der Hauptunterschied zwischen Gemeinnutz und Eigennutz.

Erst ein halbes Jahr zuvor hatte sich die Deutsche Arbeiterpartei den Namenszusatz »nationalsozialistisch« gegeben und am gleichen Ort ihr Parteiprogramm vorgestellt: eine lose Sammlung aus lediglich 25 Punkten, die bis zum Ende der Partei 1945 unverändert blieb, weil sie als unerschütterliches Fundament dienen sollte. Viele Programmpunkte ähneln denen anderer rechter Parteien der Zeit. Aber der ­extreme Antisemitismus des Programms hebt die NSDAP von diesen ab. Juden, so heißt es dort, könnten keine »Volksgenossen« und somit keine Staatsbürger sein, die Partei werde den »jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns« bekämpfen. Dieser Antisemitismus ist mit einem zweiten Strang der nationalsozialistischen Ideologie verwoben: der Arbeitsauffassung der Nazis. Die­se ist völkisch und antisemitisch, mit ihr wollte die NSDAP den sogenannten deutschen Arbeiter umwerben. Im August 1920 fasst Hitler diese Vorstellungen zusammen.

Von den meisten Reden Hitlers aus dieser Zeit sind nur Stichworte und Ausschnitte durch Polizeinachrichtendienste oder Zeitungsartikel zugänglich. Die August-Rede ist hingegen Wort für Wort bekannt, mitsamt den Reaktionen des aus etwa 2 000 Personen bestehenden Publikums, wie frenetischer Applaus oder Zwischenrufe. »Warum sind wir Antisemiten?« wurde 1963 erstmals von Reginald H. Phelps veröffentlicht und unter dem Titel »Hitlers ›grundlegende‹ Rede über den Antisemitismus« in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Sie ist grundlegend allerdings vor allem für die Arbeitsauffassung des Nationalsozialismus, aus der Hitler hier seinen Antisemitismus zieht.

Seither wurde die Rede einige Male interpretiert und analysiert, zuletzt im neuesten Buch »Die Ambivalenz des Volkes« des Historikers Michael Wildt, der die Rede für eine Analyse des nationalsozialistischen Begriffs von Arbeit nutzt. Die Spannbreite der Interpre­tationen reicht vom Historiker Eberhard Jäckel, der der Rede attestiert, »ohne gedanklichen Zusammenhang und voller Widersprüche« zu sein, bis zum Soziologen Klaus Holz, der nach eigener Aussage »exakt das Gegenteil« annimmt, die Rede also stringent und kohärent findet. Dass Hitler wahnhaft und ideologisch argumentiert, ist offensichtlich. Holz nutzt diesen paradigmatischen Text für seine Analyse des nationalen Antisemitismus.

Hitler versuchte in der Rede zu zeigen, warum seine Partei nationalistisch, sozialistisch und antisemitisch ist und sein muss. Arbeit, so sagt er ganz zu Anfang, »ist eine Tätigkeit, die ich nicht um meiner selbst willen ausübe, sondern auch zugunsten meiner Mitmenschen«. Diese Form der gemeinnützigen Arbeit ist ihm zufolge eine deutsche Eigenart. Ihr Gemeinnutz bezieht sich allerdings nur auf eine antisemitisch konzipierte deutsche Volksgemeinschaft. Folglich stellt Hitler seiner »deutschen Arbeit« eine angebliche jüdische Nichtarbeit entgegen, die nur aus Eigennutz getan werde. Denn »die Juden« sind für Hitler das genaue Gegenteil des Ariers. Erst durch das antisemitische Bild vom Juden an sich konstituiert er hier das Selbstbild des arbeitenden Deutschen. Der Antisemitismus und der Nationalismus seiner Rede sind konstitutiv aufeinander angewiesen.

Für die nationalsozialistische Arbeitsauffassung besteht der Hauptunterschied zwischen Gemeinnutz und Eigennutz. Es ist nicht die Art der Tätigkeit, die deutsche von nichtdeutscher Arbeit unterscheiden soll. Vielmehr soll es eine bestimmte Weise sein, diese Arbeit auszuführen, nämlich aus »sittlich-moralischem Pflichtgefühl« und als Dienst an der Volksgemeinschaft. Es ist dieser Pflichtbegriff, dem »die sittliche Pflicht der Arbeit« zugrunde liegen soll, über den Hitler seinen Sozialismus definiert.

Auch der antisemitische Unterschied zwischen »schaffendem« und »raffendem« Kapital muss als einer verstanden werden zwischen zwei verschiedenen Arten, eine Tätigkeit, also auch Bankgeschäfte und Unternehmertum, auszuführen: Für die nationalso­zialistische Ideologie gibt es eine deutsche Art, beispielsweise eine Bank zu führen, Juden dagegen führten jede Tätigkeit undeutsch aus. Diese Position vertrat der Rassenantisemit Wilhelm Marr bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Nicht nur der Gemeinnutz soll die Deutschen auszeichnen. Deutschen sei grundsätzlich eine Neigung zur Arbeit und zur Tätigkeit wesentlich. »Wenn es wirklich dieses Paradies gäbe, dieses sogenannte Schlaraffenland«, ruft Hitler seinen Zuhörern zu, »es würde unser Volk darin nicht glücklich werden.« Denn der Gegensatz zur deutschen Arbeit ist für die nationalsozialistische Partei nicht nur die jüdische Nichtarbeit, sondern es sind auch der Müßiggang und die Faulheit. Deshalb verfolgt der Nationalsozialismus später auch diejenigen, die sich dem Appell zur Arbeit angeblich oder tatsächlich entziehen, als »Arbeitsscheue« oder »Asoziale« und schließt sie aus der »Volksgemeinschaft« aus.

Hitler beginnt seine Rede mit der Ansprache: »Meine lieben Volksgenossen und -genossinnen!« Diese Begrüßung verweist auf die ausschließende Integration von Frauen in die nationalsozialistische Arbeitsauffassung. Deren Fürsorge- und Reproduktionsarbeit soll einerseits aufgewertet werden, indem sie als Arbeit anerkannt wird, aber andererseits werden Frauen von der nationalsozialistischen Ideologie auf genau diese mütterlichen, sorgenden Tätigkeiten festgelegt. Dies änderte sich erst in der nationalsozialistischen Kriegsökonomie, denn Frauen wurden schlicht gebraucht. In den nationalsozialistischen Texten wurde diese Veränderung aber erstaunlich wenig thematisiert.

Es ist nicht nur die Arbeit, die dieser Rede nach die Deutschen auszeichnen soll. Mit der Arbeit verbunden sind laut Hitler eine »Rassenreinheit«, ein »tief-innerliches Seelenleben« sowie die Fähigkeit, Staaten zu gründen. Letztere spricht er Jüdinnen und Juden ab. Sein Antisemitismus ist also auch explizit ein Antizionismus.

Die Ideen aus dieser Münchner August-Rede wiederholt Hitler später auch in »Mein Kampf«, etwa an der Stelle, an der er die Hakenkreuzfahne beschreibt, die für den »Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antise­mitisch sein wird«, stehen soll. Der nationalsozialistische Grundgedanke, Arbeit sei ein Dienst an der Volksgemeinschaft, findet sich in der Folge in unzähligen nationalsozialistischen Texten. Er wird schließlich in Reichsarbeitsdienst und Deutscher Arbeitsfront institutionalisiert. Die »deutsche Arbeit« wird zu einem zentralen Element des Nationalsozialismus, das später auch in der Erziehung und im Zwang zur Arbeit sowie in der »Vernichtung durch Arbeit« zum Ausdruck kommt. Die nationalsozialistische Arbeitsauffassung wird dennoch in der Forschung noch viel zu wenig untersucht.

Hitler radikalisiert mit dieser Rede die Idee einer »deutschen Arbeit« aus dem 19. Jahrhundert, die sich von der Arbeit anderer Nationen wesentlich unterscheiden soll, indem er sie von einer antisemitisch konzipierten Volksgemeinschaft her begründet. Der Unterschied ist jedoch nur graduell, im Loblied auf die »deutsche Arbeit« feierte sich immer schon die Volksgemeinschaft. Auch Antisemitismus war von Beginn an Teil der Ideologie der »deutschen Arbeit«. In deren nationalsozialistischer Interpretation tritt die Verbindung von Antisemitismus, Arbeit und Volksgemeinschaft jedoch deutlicher zutage.

1920 war Anton Drexler, der Gründer der DAP, noch der Erste Vorsitzende der NSDAP. Hitler löste ihn ein Jahr später ab. Bereits 1920 galt er als begabtester Propagandist und Redner der Partei. 1923 wagte Hitler mit seiner Gefolgschaft den »Marsch auf Berlin«, der scheiterte. Er musste für etwas mehr als ein Jahr in Untersuchungs- und Festungshaft, wo er unter guten Bedingungen in Ruhe »Mein Kampf« schreiben konnte. Die NSDAP wurde ver­boten, konnte allerdings 1925 neu gegründet werden. Ab 1930 trat sie ihren Siegeszug an. Als die Partei 1933 an die Macht kam, setzte sie ihre Arbeitsauffassung politisch um. Dies führte mit zu der Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden, von Sinti und Roma, von »Arbeitsscheuen« und »Asozialen« und von Menschen mit Behinderung.