Streik am Meer
»Es geht darum, dass wir seit fast einem Jahr unter seelischen und emotionalen Druck gesetzt werden«, sagt Marion Markowski. Die 38jährige arbeitet in der Hauptverwaltung der Fischrestaurantkette Nordsee in Bremerhaven. Sie steht vor ihrer Arbeitsstelle, nur ein paar Schritte vom Hafenbecken entfernt, und trägt eine knallgelbe Weste. Auf ihrem Rücken steht: »Wir streiken!«
Seit fast einem Jahr wird die Verlegung der Hauptverwaltung der Nordsee GmbH diskutiert. Der Hauptsitz des Gastronomiekonzerns verwaltet sämtliche Niederlassungen vor allem in Deutschland und Österreich, aber auch in einigen anderen europäischen Ländern mit rund 3 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie weiteren etwa 2 500 Beschäftigten bei Franchise-Filialen. Die Zentrale des seit fast 125 Jahren existierenden Unternehmens befindet sich seit 1934 in Bremerhaven.
Der Betriebsrat konnte lediglich Abfindungen bei Kündigung aushandeln.
Obwohl noch nichts entschieden ist, könnte sich das bald ändern. »Wir haben ganze Familien, die bei Nordsee arbeiten. Wir sind hier verwurzelt, wir wollen hier nicht weg«, sagt Markowski. Schlimm sei zudem, nicht zu wissen, ob der eigene Arbeitsplatz in einigen Monaten noch existiert. Die Arbeitnehmer halten mit Unterstützung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) schon den zweiten Warnstreik ab. Wie bereits beim ersten Streik im Februar fordern sie fordern Verhandlungen über einen Sozialtarifvertrag. Knapp ein Drittel der etwa 120köpfigen Belegschaft ist präsent, beim vorherigen Warnstreik waren es noch mehr. Es ist ungewöhnlich warm und sonnig an diesem Mittwochvormittag vergangener Woche. Bereits um elf Uhr vormittags sind es fast 25 Grad. Und es ist wie immer windig.
Die Fischindustrie hat in Bremerhaven Tradition. Am Fischereihafen sitzen etwa 400 Betriebe, 4 000 Menschen verdienen hier mit Fisch ihr Geld. Volker Heigenmooser, Pressesprecher der Stadt Bremerhaven, sagt der Jungle World, der Wegzug eines alteingesessenen Unternehmens wie Nordsee wäre in den Augen der Stadt sehr bedauerlich. Die Lebensmittelindustrie, und dabei in erster Linie die Fischproduktion und -verarbeitung, ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Stadt. »Nordsee müsste eigentlich erkennen, wie gut der Standort im Fischereihafen auch für ihr Image ist«, so Heigenmooser. Die Stadt ist dem Konzern bereits entgegengekommen: Ausstehende Rückzahlungen in Höhe von knapp 100 000 Euro, die die Stadt als Förderkredite beim Bau der neuen Hauptverwaltung vor vier Jahren gewährt hatte, sollen gestundet oder erlassen werden, wenn das Unternehmen in Bremerhaven bliebe.
Die Angestellten der Hauptverwaltung denken schon einen Schritt weiter. Den geforderten Sozialtarifvertrag bezeichnen die Streikenden als »Sicherheitsgurt«. Darin sollen soziale Maßnahmen für den Fall von Betriebsänderungen wie einen Wegzug des Unternehmens vereinbart werden. Ziele solcher Verhandlungen wären für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Beispiel angemessene Abfindungen, Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten oder auch die Möglichkeit zur Weiterbildung.
Der Arbeitgeber lehnt derartige Verhandlungen strikt ab. »Unserer Rechtsauffassung nach sind die Bedingungen für Sozialtarifverhandlungen nicht gegeben«, sagt ein Sprecher der Nordsee GmbH im Gespräch mit der Jungle World und fügte an: »Wir sondieren ja gerade erst; noch gibt es überhaupt keinen Anlass, solche Verhandlungen zu führen.« Moritz Steinberger, Gewerkschaftssekretär der NGG, sieht das anders. »Seit Herbst vergangenen Jahres finden Umstrukturierungen statt, Leute wurden gekündigt und die Standortverlegung steht im Raum. Das sind definitiv genug Gründe für Verhandlungen«, sagt er der Jungle World. Im Herbst verkaufte die Müller Group, die bisherige Eigentümerin, die Nordsee Holding an das Schweizer Beteiligungsunternehmen Kharis Capital. Die Veränderungen im Betrieb, von denen Steinberger spricht, hängen damit zusammen.
Die Verhandlungen zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat über die Umstrukturierung des Unternehmens scheiterten damals, so dass sich beide Seiten im Februar 2020 in einer Einigungsstelle begegneten. Deren Entscheidung deckte sich weitgehend mit den Interessen des Arbeitgebers. Der Betriebsrat konnte lediglich Abfindungen bei Kündigung aushandeln, die Frage nach Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten und der Standortverlegung sind nach wie vor ungeklärt.
Dass den Beschäftigten immer noch keine klaren Auskünfte erteilt wurden, begründet der Pressesprecher des Konzerns mit den vielen Veränderungen der vergangenen Monate. Die Coronasituation und der Wechsel der Geschäftsführung hätten dazu geführt, dass die Lage neu sondiert werden müsse. Seit Februar 2020 ist Carsten Horn neuer Geschäftsführer. Der zweite Geschäftsführer Andreas Gertzobe ist bereits seit Juni 2018 in seiner Position tätig. Auf die Frage, was er Angestellten rate, die Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, antwortet der Pressesprecher, sie sollten die Gesamtlage des Konzerns betrachten und Verständnis zeigen.
Marion Markowski wirft der Geschäftsführung eine Hinhaltetaktik vor. Sie arbeite seit 19 Jahren für Nordsee und habe sich dort immer wohlgefühlt. Das habe sich jedoch seit vergangenem Herbst verändert. Langsam seien die Kraftreserven am Ende, sagt sie. Sie erhoffe sich vom Streik, »dass die Geschäftsführung merkt, dass die Belastungsgrenze erreicht ist«.
Nach der Ankündigung des Streiks bot die Geschäftsführung einen Termin für ein Gespräch mit dem Betriebsrat an – für einen »offenen Dialog«, nicht aber für die erwünschte Sozialtarifverhandlung unter Beteiligung der Gewerkschaft. Einen Tag nach dem Warnstreik war es so weit. Erstmals benannte der Arbeitgeber die Faktoren, die für oder gegen einen Standortwechsel sprächen. Diese Faktoren könnten sich nach Aussage der Geschäftsführung aber mit den Umständen ändern, berichtet eine Vertreterin des Betriebsrats der Jungle World.
Auch wenn das Gespräch den Betriebsrat einem Sozialtarifvertrag nicht näher gebracht hat, bewerten seine Mitglieder es positiv. Es sei ein erster Schritt in Richtung Transparenz, heißt es. In den kommenden Wochen sollen weitere Gespräche folgen. Hoffentlich, so die Vertreterin des Betriebsrats, würden sie künftig früher von Planungen des Unternehmens erfahren.