Die Kampagne #SpeakingOut macht auf sexuelle Übergriffe im Wrestling aufmerksam

Das Schweigen ist vorbei

Unter dem Hashtag #SpeakingOut erlebte das Wrestling-Geschäft in diesem Jahr seine spezielle »Me too«-Kampagne. Erstmals sprachen Dutzende Menschen über sexuelle Belästigungen, Demütigungen und Vergewaltigungen in der Branche.
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Der US-amerikanische Wrestler David Starr hat viele Spitznamen. Einer davon lautet »He who is very good at Twitter«, weil er den Kurznachrichtendienst sehr häufig nutzte. Doch dann war sein Account plötzlich verschwunden. In einem seiner letzten Tweets Mitte des Jahres schrieb er: »Ich bin kein Sexualstraftäter.« Er ließ diese Botschaft sogar gegen Bezahlung prominent in den Timelines der Fans zu platzieren. Zwei Wochen später hatten etliche Wrestler ihre Jobs und Bookings verloren, Titel wurden aberkannt und Fans fragten sich, wie es so weit kommen konnte.

Alles hatte damit begonnen, dass mehrere ehemalige Partnerinnen Starrs auf Twitter Anschuldigungen gegen ihn erhoben hatten, die von Untreue über gaslighting bis hin zu Vergewaltigung reichten. Einen großen Teil der Vorwürfe räumte der Wrestler öffentlich ein und schrieb, er wisse, dass er ein furchtbarer Partner gewesen sei, und suche psychologische Hilfe. Nur den Vorwurf, ein Sexualstraftäter zu sein, wies er von sich. Was zuerst wie eine persönliche Geschichte zwischen einem Wrestler und mehreren Frauen aussah, wurde schnell zu einer Debatte, die die gesamte Branche für Wochen in Atem hielt. Unter dem Hashtag #SpeakingOut wurden Vorwürfe gegen Dutzende Wrestler, Trainer, Promoter und andere laut. Das Wrestling-Geschäft erlebte seine spezielle »Me too«-Kampagne.

Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gegen Wrestlerinnen und Wrestler sind so alt wie das Wrestling selbst.

Zahlreiche Vorwürfe lassen auch europäische Wrestling-Schulen schlecht dastehen. So wurden mehrere Trainer entlassen, nachdem bekannt geworden war, dass sie ihre Machtposition als Ausbilder ausgenutzt haben sollen, um Nachwuchs-Wrestlerinnen und -Wrestler unter Druck zu setzen. Die Britin Millie McKenzie, mittlerweile ein Star im japanischen Wrestling, kam als Teenagerin in die Branche. Ihr damaliger Trainer Travis Banks ist 13Jahre älter. Auf Twitter berichtete sie: »Ich habe mit 17 mein Training unter ihm begonnen. Wir hatten eine geheime Beziehung. In der Öffentlichkeit durfte niemand davon wissen. Er hat mich häufig betrogen und war furchtbar zu mir. Das hatte schwerwiegenden Einfluss auf meine psychische Gesundheit und mein Selbstvertrauen.«

Banks konnte zuletzt einen feste Anstellung beim weltgrößten Wrestling-Veranstalter WWE erringen. Dieser hat im Zuge der Diskussion, wie mehrere andere Wrestling-Promoter, bekundet, »null Toleranz« im Falle sexueller Belästigung walten zu lassen, und neben Banks auch die Wrestler Joe Coffey, Jack Gallagher und El Ligero entlassen. Anders verhielt es sich beim US-amerikanischen Wrestler Velveteen Dream. Dieser soll minderjährigen Fans unangemessene Botschaften geschickt haben. Zwei Monate lang verschwand er deshalb von der Bildfläche, Mitte August feierte er sein Comeback. »Wir haben uns die Sache angesehen und nichts gefunden«, sagte das Mitglied der Geschäftsleitung von WWE, Paul Levesque, besser bekannt als Triple H, dem Sender CBS Sports.

Bemerkenswert ist, dass sich neben vielen Wrestlerinnen auch männliche Athleten unter #SpeakingOut zu Wort gemeldet haben. Auf Twitter berichtete Keith Lee ­davon, wie eine Frau ihn in einer Bar unter Drogen gesetzt und vergewaltigt habe. Der afroamerikanische Wrestler betonte, dass er seine Geschichte nicht aus Groll, Hass oder Wut erzähle, sondern weil er andere wissen lassen wolle, dass sie nicht allein seien. Diese Aussage eines 150 Kilo schweren Athleten ­bedeutet viel in einer Branche, in der sich alles darum dreht, ein möglichst toughes Image zu haben. Zwei Wochen später gewann Lee den wichtigsten Titelkampf seiner Karriere.

Ähnlich wie bei #MeToo wurden unter #SpeakingOut ganz unterschiedliche Vorwürfe erhoben. Man­ches Fehlverhalten liegt teilweise viele Jahre zurück und war in bestimmten Wrestler-Kreisen bereits bekannt, wurde aber nicht problematisiert. So ging im Juni der Ausschnitt aus einem Podcast viral, in dem der Wrestler Sammy Guevara sagte, er wolle seine Kollegin Sa­sha Banks gerne vergewaltigen. Die Wrestling-Agentur AEW ­verdonnerte ihn deshalb zu einem Sensibilitätstraining und stellte seine Bezahlung so lange ein, bis er diesen Kurs absolviert hat. Sein Lohn gehe bis dahin an das Frauenzentrum von Jacksonville, verkündete die Organisation.

Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gegen und Wrestler und Wrestlerinnen sind so alt wie das Wrestling selbst. Die Branche strotzt vor offenen Geheimnissen wie der Geschichte von Mary Lillian Ellison, besser bekannt unter ihrem Ringnamen Fabulous Moolah. Sie starb 2007 und galt zeitlebens als Legende des Frauen-Wrestlings. Sie dominierte die Branche über Jahrzehnte, bildete zahlreiche Wrestlerinnen aus und stieg noch im hohen Alter selbst in den Ring. Erst nach ihrem Tod wurden Berichte ehemaliger Schülerinnen öffentlich bekannt. Ellison soll unerfahrene junge Frauen finanziell ausgebeutet, mit Drogen gefügig gemacht und dann wie eine Zuhälterin Männern als Sexualpartnerinnen zugeführt haben. Noch 2018 wollte die WWE ein Wrestlemania-Match ihr zu Ehren »The Fabulous Moolah Memorial Battle Royal« nennen. Nach heftiger Kritik wurde dieser Name verworfen.

Über Jahrzehnte war es in der Branche üblich, solche Geschichten zu ignorieren. Ein Beispiel dafür ist auch der Fall von Ashley Massaro. Die Wrestlerin gab an, 2006 auf einer WWE-Veranstaltung auf einem Mi­litärstützpunkt in Kuwait vergewaltigt worden zu sein. Zehn Jahre später warf sie dem Management der WWE vor, sie dazu überredet zu haben, die Tat nicht anzuzeigen. Im Jahr 2019 nahm Massaro sich das Leben.
Mittlerweile nehmen Wrestling-Agenturen die Aussagen von Menschen, die sich als Opfer sexueller Gewalt zu erkennen geben, allerdings ernst. Allein die hohe Anzahl der Vorwürfe deutet auf strukturelle Probleme hin.

Ein Teil der Branche scheint gewillt zu sein, diese Strukturen zu verändern. Zahlreiche Wrestlerinnen und Wrestler erklärten sich solidarisch mit den Kolleginnen und Kollegen, die sich unter #SpeakingOut geäußert hatten. Bei Progress Wrestling, einem der größten Unternehmen in Großbritannien, trat der Vorstand, bestehend aus drei Männern, geschlossen zurück und machte Platz für ein paritätisch ­besetztes Team aus zwei Männern und zwei Frauen. Zahlreiche Ligen haben David Starr Titel aberkannt und die Zusammenarbeit mit ihm beendet. Die deutsche Promotion WXW aus Oberhausen hat sich von mehreren Trainern ihrer Wrestling-Schule getrennt und entschieden, bereits gefilmte Matches mit diesen, die in den kommenden Wochen veröffentlicht werden sollten, aus dem Programm zu entfernen.

Die Mehrzahl der Anschuldigungen, die unter #SpeakingOut diskutiert wurden, betraf die britische Branche, die in den vergangenen zehn Jahren einen beispiellosen Boom erlebt hat, in dessen Folge zahlreiche Agenturen und Wrestling-Schulen entstanden sind. Aus ehrenamtlich von Fans organisierten Veranstaltungen sind professionelle Unternehmen geworden.

Auch gegen deutsche Wrestling-Schulen werden Anschuldigungen erhoben. Eine ehemalige Wrestling-Schülerin, die anonym bleiben möchte, berichtete der Jungle World, dass ein Trainer sie aggressiv durch den Ring geschleudert habe. »Er zwingt mich auf der Matte in eine demütigende Haltung und tut so, als ob er von hinten in mich eindringt. Als ich mit ihm reden möchte, legt er mir die Hand auf den Mund und sagt: Rede nicht, wenn es nicht wichtig ist.« Der Redaktion liegen mehrere vergleichbare Erfahrungsberichte von Nachwuchs-Wrestlerinnen aus mehreren deutschen Wrestling-Schulen vor. Eine berichtet, wie eine Aufarbeitung erlittener Demütigungen am Unwillen des Umfelds gescheitert sei, diese ernstzunehmen: »Obwohl ich die Vorfälle mit den Trainern immer wieder ansprach, wurde nichts gemacht. Mir wurde eine Wahrnehmungsstörung unterstellt, ich würde lügen und sei mental instabil.«

Zumindest bei Deutschlands größter Wrestling-Schule, der WXW-Academy, scheint es ernsthafte Versuche zu geben, solche Vorfälle in Zukunft zu verhindern. Neben der bereits erwähnten Entlassung mehrerer Trainer gibt es künftig auch Training nur für Frauen und eine Kamera im Trainingszentrum, die immer läuft und es so ermöglichen soll, Fehlverhalten während des Trainings nachzuverfolgen.