Die Drohbriefe des »NSU 2.0« sind Teil einer rechtsextremen Offensive

Spuren führen zur Polizei

Morddrohungen mit dem Absender »NSU 2.0« und ähnlichen Signaturen häufen sich. Frauen werden oft und besonders heftig bedroht.

Drohung folgt auf Drohung. Per E-Mail, Fax, SMS und über Internetkontaktformulare wird den Betroffen der Tod gewünscht. Der Absender nennt sich stets: »NSU 2.0«. Die Schreiben richten sich gegen Personen aus dem öffentlichen Leben, häufig sind es Anwältinnen, Politikerinnen oder Künstlerinnen – auffällig oft werden Frauen bedroht. Alleine vom 2. August bis zum 20. August 2020 verschickten Unbekannte unter der Signatur »NSU 2.0«, die auf den rechtsterroristischen »Nationalsozialistischen Untergrund« anspielt, mindestens 99 Morddrohungen. Aus dem sogenannten Darknet wurden sie anonym gesendet. Es ist nicht einfach, dort zu ermitteln, doch gibt es Indizien dafür, dass die Ermittlungen auch durch die politische Einstellung und persönliche Verstrickungen der verantwortlichen Beamten behindert werden. Seit in Hessen gegen Polizeibeamte ermittelt wird und in Berlin ein Staatsanwalt versetzt wurde, nimmt dieser seit langem von Betroffenen geäußerte Verdacht immer konkretere Formen an. Dennoch herrscht noch immer die Tendenz vor, von Einzelfällen zu sprechen.

Als Grußformeln dienten »Sieg Heil« und »Heil Hitler«. Am »Tag X«, hieß es, werde die Polizei die Politikerin Janine Wissler nicht beschützen.

Die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız aus Frankfurt am Main erhielt als Erste eine der Morddrohungen von »NSU 2.0«. Im NSU-Prozess, der von 2013 bis 2018 am Oberlandesgericht München stattfand, vertrat sie die Familie von Enver Şimşek, den das NSU-Netzwerk am 11. September 2000 ermordete. Şimşek war das Erste von neun migrantischen Mordopfern des NSU. In dem Fax vom 2. August 2018 an Başay-Yıldız wurde sie »hirntoter Scheißdöner« genannt. Ihr sei nicht bewusst, was sie »unseren Polizeikollegen angetan« habe. Doch jetzt käme es »richtig dicke für dich, du Türkensau«, denn »deiner Scheiß-(Name der Tochter) reißen wir den Kopf ab«. Der oder die anonymen Täter bezogen sich vermutlich auf ihre anwaltliche Tätigkeit im NSU-Prozess.

Başay-Yıldız erstattete Anzeige. Daraufhin fand die Polizei in Frankfurt am Main heraus, dass eine Polizeibeamtin kurz vor dem Versenden des Faxes die persönlichen Daten der Anwältin aus dem Computer des 1. Polizeireviers der Stadt abgerufen hatte. Bei der Überprüfung des Handys der Polizistin entdeckte die Polizei eine Chatgruppe von Polizistinnen und Polizisten des Reviers, in der diese rechtsextreme ­Inhalte austauschten – einer aus einer ganzen Serie von »Einzelfällen« bei der Polizei.

Başay-Yıldız erhielt weitere Morddrohungen. Eine davon ging am 5. Juni 2019 per Fax ein und nahm Bezug auf die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU). Drei Tage zuvor hatte Stephan E., der sich im militanten »Bood & Honour«-Netzwerk bewegt hatte und später bei AfD-Demonstrationen mitmarschierte, Lübcke auf der Terrasse seines Hauses erschossen. Seit Jahren war wegen Lübckes Engagement für Flüchtlinge in den sozialen Netzwerken gegen ihn gehetzt worden. Daran beteiligte sich auch Erika Steinbach, ehemals CDU-Mitglied wie Lübcke, derzeit Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung. Doch gesamtgesellschaftlich zeigt die Reaktion auf die Ermordung Lübckes ein Umdenken, der rechte Terror wird seitdem ernster genommen. Dies offenbart andererseits auch die mangelnde Empathie für die vielen zuvor Ermordeten, deren Tod keine solche Erschütterung hervorrief.

Bis heute fehlt der Polizei offenbar jede Spur, die zu den möglichen Absendern der Morddrohungen des »NSU 2.0« führen könnte. Ende Juli nahm sie ­vorübergehend einen ehemaligen Polizeibeamten und dessen 55 Jahre alte Ehefrau aus dem bayerischen Landshut fest. Die Polizei hält ihnen vor, zwölf Schreiben mit beleidigenden, volksverhetzenden und drohenden Inhalten an Bundestagsabgeordnete und verschiedene andere Adressaten verschickt zu haben (siehe Bewaffnet auf dem Trittbrett). Sie werden aber nicht als Angehörige des »NSU 2.0« eingestuft, sondern als »Trittbrettfahrer«. 17 Schreiben ordnet die Polizei mittlerweile Nachahmern zu, sagte jüngst der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) im Innenausschuss des Landtags. Die Drohschreiben rich­teten sich an insgesamt 28 Menschen und Institutionen in acht Bundesländern – und eine Spur führte wieder zur Polizei. Denn bevor ein Drohschreiben bei Janine Wissler, der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im hessischen Landtag, einging, waren wie zuvor bei Başay-Yıldız ihre persönlichen Daten aus dem Polizeicomputersystem abgerufen worden. In zwei E-Mails wurde Wissler im Februar dieses Jahres heftig beschimpft und bedroht. Als Gruß­formeln dienten »Sieg Heil« und »Heil Hitler. Am »Tag X«, hieß es, werde die Polizei sie nicht beschützen.

Das Kürzel »NSU 2.0« nutzen offensichtlich mehrere Personen. Aber wie oder ob diese miteinander in Kontakt stehen, ist nicht klar. Handelt es sich um eine Gruppe, die Nachahmerinnen und Nachahmer findet, oder um Täter, die lediglich dieselbe Einstellung teilen?

Rechtsextreme versendeten schon immer Morddrohungen. Doch mit dem sogenannten Willkommenssommer 2015 setzte nicht nur im militanten rechtsextremen Milieu, sondern auch in der entsprechenden Publizistik eine Dynamik ein, die die Häufung von Morddrohungen begünstigt haben könnte. Von den Wahlerfolgen der AfD fühlte sich diese Milieus zunächst bestärkt, zumal diese Erfolge dazu beitrugen, dass rassistischem Ressentiment häufiger eine mediale Plattform geboten wurde. Das wiederum verhalf der sze­ne­internen Annahme zu größerer Publizität, dass gerade ein »großer Austausch« der autochthonen Bevölkerung stattfinde. Das wirtschaftliche, politische und mediale Establishment sei im Begriff, das »eigene Volk« durch Einwanderung aufzulösen. Wenn dieser angeblich gesteuerte Prozess nicht schnell gestoppt werde, sei die angenommene biologische Substanz des »Volkes« unwiederbringlich verloren. Diese »Sorge« eint AfD, Identitäre ­Bewegung, das Institut für Staatspolitik (IfS) und Rechtsterroristen. Der Bundestagsfraktionsvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, erklärte, der »Bevölkerungsaustausch in Deutschland« laufe »auf Hochtouren«. Renaud Camus‘ Buch »Revolte gegen den Großen Austausch« ist ein Standardwerk für die Identitären. Der Mitbegründer des IfS, Götz Kubitschek, in dessen Hausverlag die deutsche Übersetzung von Camus’ Buch erschien, warnt vor einem »blutmäßigen Austausch«, und der Atten­täter, der im neuseeländischen Christchurch 51 Muslime tötete, überschrieb sein Manifest mit »The Great Replacement«.

Nicht alle rechtsextremen Morddrohungen enthalten die Signatur »NSU 2.0«. Manche tragen andere Selbstbezeichnungen: »Wehrmacht«, »Elysium«, »Staatsstreichorchester«, »SS-Obersturmbandführer«, »NSU-Vergeltungskommmando«, »Prinz Eugen SSOSTUBAF« (mutmaßlich die Abkürzung für »SS-Obersturmbannführer«, Anm. d. Red.), »Wolfszeit«, »Der Führer« oder »Nationalsozialistische Offensive« (NSO). Seit April findet am Landgericht Berlin der Prozess gegen den 32jährigen André M. statt. M. hat eine lange Vorgeschichte in der militanten rechtsextremen Szene und ist angeklagt, unter dem Absender NSO zahl­reiche Drohmails an Politikerinnen, Politiker, Ratshäuser, Gerichte, Polizeidienststellen, Hotels und Einkaufszentren verschickt zu haben. Die E-Mails drohten mit Anschlägen, Mord und der Vergewaltigung von Kindern. 103 solcher Schreiben soll M. via Darknet aus Halstenbek bei Hamburg versendet haben. Bedroht hat er auch die Sängerin Helene Fischer. Mit der Zeit wurde M. immer unvorsichtiger. Als er eine Bekannte bedrohte, konnte die Polizei ihn identifizieren. Diese teilte mit, dass M. nicht alleine gehandelt habe. Von dem von M. verwendeten Darknet-Portal verschickte eine zweite Person sehr ähnliche Schreiben, mal als »Wehrmacht«, mal als »Staatsstreichorchester«. Ab Mitte Januar sollen die beiden Drohbriefschreiber in engem Austausch gestanden haben. Gefunden wurde die zweite Person jedoch bisher nicht. Wie nahe sich die Absender der Drohungen stehen, zeigte bereits der erste Verhandlungstag. Kurz vor Beginn ging beim Landgericht Berlin per Fax eine mit »NSU 2.0« unterzeichnete Bombendrohung ein.

Die Geschichte der politischen Relativierung des rechten Terrors in Deutschland ist so alt wie dieser selbst. Die Geschichte der mangelnden Empathie für die Opfer ebenso. In den vergangenen Monaten gingen Polizei und Staatsanwaltschaften gegen mehrere Netzwerke und Gruppe wegen Gewalttaten oder geplanten Anschlägen vor. Die Toten in Kassel, Halle und Hanau waren nicht die ersten Ermordeten – sie ­werden auch nicht die letzten gewesen sein.

Antifeminismus ist ein integraler Bestandteil der rechtsextremen Ideologie: Frauen erhielten teilweise gleich mehrfach Drohungen. In dem Zeitraum vom 2. August 2018 bis zum 29. Juli gingen sieben Drohschreiben an Başay-Yıldız, vier an die stellvertretende Vor­sitzende der Linkspartei und Bundestagsabgeordnete Martina Renner und drei an Janine Wissler. Die Betroffenen stehen inzwischen miteinander in Kontakt. Diesen Zusammenschluss der bedrohten Frauen gab Başay-Yıldız auf Twitter bekannt. Sie stellte eine Zeichnung online, die sie zusammen mit ­Janine Wissler, der Kabarettistin Idil Baydar, der Berliner Landtagsfraktionsvorsitzenden der Linkspartei, Anne Helm, und Martina Renner darstellt. Über das Bild schrieb die Anwältin: »Grüße an den Oberstrumpfbandführer – Ihr bekommt uns nicht klein.«