Der Fußballtaktikexperte Tobias Escher ist auf der Suche nach dem Schlüssel zum Spiel

Taktik als Ordnung im Chaos

Mit »Der Schlüssel zum Spiel« hat Tobias Escher ein Standardwerk über die moderne Fußballkunst geschrieben.

Fußball ist ein schönes Spiel. Heutzutage kaum vorstellbar, aber es gab Zeiten, damals, als Alfredo Di Stéfano und Ferenc Puskás kickten, da unterließen die Stürmer das Feiern ­eines Elfmetertors, weil es sich nicht um einen schön herausgespielten Treffer handelte.

Aus, vorbei. Die Verwertungslogik hat den Fußball so sehr in eine Ware verwandelt, dass selbst die langweiligsten Siege zum Medienereignis hochgeschraubt werden, um sie als teures Produkt zu verkaufen. Aber weil der Fußball – wie das Theater und der Film – ein Spiel ist, hat er trotz ­allem seinen künstlerischen Wert behalten. Es kommt einfach darauf an, gut zu spielen: filigran alles Mögliche mit dem Ball anzustellen, einen feinen Pass zu geben, einen überraschenden Spielzug auszuführen, einen Zweikampf geschickt zu gewinnen. Die Eleganz eines torvorbereitenden Dribblings oder die Energie einer spektakulären Schusstechnik, der kluge Teamgeist der Mannschaft bei der Abwehr des gegnerischen Angriffs – das löst in der Fankurve starke Emotionen aus.

»Der Ball hat die beste Kondition«, das wusste schon Sepp Herberger.

Tobias Escher, der als Mitgründer des mehrfach preisgekrönten Fußball-Blogs »Spielverlagerung« bekannt wurde, hat ein Buch über das Funktionieren des modernen Fußballs vorgelegt, das viel mit der Schönheit und Raffinesse des Spiels zu tun hat. Es heißt »Der Schlüssel zum Spiel«. Er beginnt sein Buch mit der schlichten Bemerkung: »Die recht simplen Regeln des Fußballs verleiten zu der Annahme, dass auch das Spiel an sich simpel sei. (…) Ironischerweise liegt in der Einfachheit des Spiels auch seine Komplexität. Es gibt kaum Restriktionen für die Spieler. Auf dem rund 7 000 Quadratmeter großen Feld dürfen sie sich frei bewegen.«

Die Möglichkeiten auf dem Platz sind riesig und das Fußballspiel befindet sich dadurch ständig im Fluss. Die Spieler bewegen sich frei, es gibt außer bei den sogenannten Standardsituationen – Einwürfen, Eckbällen, Frei- und Strafstößen – und nach Toren keine Pausen. Ein Ball, der sich in einem Moment im gegnerischen Strafraum befindet, kann 10 Sekunden später im eigenen Strafraum landen. Wer sich hier nur irgendwie und irgendwo auf dem grünen Rasen aufstellt und bewegt, erreicht nicht viel, vor allem nicht, dass der Ball auch wirklich so rollt, wie man will. Insbesondere verkompliziert sich, nach dem schönen Satz Jean-Paul Sartres, bei einem Fußballspiel alles durch die Anwesenheit der ­gegnerischen Mannschaft. Gegen eine gut organisierte Defensive hat man ohne Taktik keine Chance. Oft genügt eine Unachtsamkeit beim Abspiel oder Dribbling und der Ball ist weg. Ob man eine Hereingabe des Balls durch den Gegner gut verteidigen kann oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. »Fußballtaktik ist die Ordnung des Chaos«, so Escher. »Heute wird genau choreographiert, wie sich die Spieler aufzustellen haben. Und doch hat der Fußball sein chaotisches Element behalten. Wie oft passiert es, dass die Mannschaft mit dem Mehr an Tormöglichkeiten ein Spiel verliert? Die beste Taktik schützt einen nicht vor einem blöden Fehlpass in der 90. Minute, der zum Ausgleichstreffer führt.«

Gerade in Deutschland wird der Fußball häufig nur statisch als Abfolge und Summe von Duellen gesehen. Taktik wird unter vielen Fußballfans noch immer unterschätzt. Elf einzelne Spieler müssen sich auf dem Feld zurechtfinden. Wo sollen sie stehen? Welche Räume sollen sie abdecken? Welcher Spieler soll beim Angriff in welchen Raum laufen? Wie viel Risiko soll man beim Dribbling eingehen? Wohin soll der Ball nach der Baller­oberung gespielt werden? Über welche Räume lässt sich ein gefährlicher Angriff einleiten? Welcher Gegenspieler muss unbedingt aus dem Spiel genommen werden? Escher schreibt: »Das Ziel einer guten Taktik ist es, den Spielern zu ­helfen. Sie kann nur funktionieren, wenn sie auf die ­einzelnen Spieler abgestimmt ist.«

Eschers Versuch, Struktur in das Chaos eines Spiels zu bringen, basiert auf einem Modell des niederländischen Trainers Louis van Gaal. Das Fußballspiel wird als ständige Ab­folge von vier Phasen beschrieben: gegnerischer Ballbesitz, Umschaltmoment nach Ballgewinn, eigener Ballbesitz und Umschaltmoment nach Ballverlust. Danach ist das Buch gegliedert.

Die erste Überraschung gibt es auf Seite 23. Der vom Trainer Jürgen Klopp präferierte Hochgeschwindigkeitsfußball wird keineswegs als Offensivfußball, sondern als gute Defensivtaktik eingeschätzt. »Eine gute Defensivtaktik hat nicht nur das Ziel, kein Gegentor zu kassieren. Der Fußball von Jürgen Klopp ist der beste Beweis: Er möchte, dass seine Mannschaft den Gegner unter Druck setzt, den Ball weit in der gegnerischen Hälfte erobert. Wenn möglich, soll diese Balleroberung in einer Si­tuation geschehen, welche die Chance auf einen schnellen Gegenangriff bietet. (…) Deshalb jagen Klopps Mann­schaften den Gegner auf dem gesamten Feld. Auch das ist im Kern defensiver Fußball.«

Klopp hat als Trainer von Borussia Dortmund dem Fußball nicht nur viel Freude geschenkt, sondern auch neue Vokabeln. Seine Teams bezeichnet er gern als »Pressingmonster«. Wer den Gegner in einen bestimmten Raum leitet, um daraufhin zum Pressing überzugehen, baut eine »Pressingfalle« auf. Escher, der anhand praktischer Beispiele, die sich durch das ganze Buch ziehen, die jeweils beste Taktik vorne wie hinten beschreibt, vergleicht Klopps »komplexes Pressing« mit starker Vorwärtsbewegung mit dem »abgesicherten Pressing« von Diego Simeone, dem Trainer von Atlético Madrid. Mit diesem lässt sich der den Ball viel individueller und tiefer verteidigen, so dass man so gut wie gar nicht durch hohe lange Bälle des Gegners überrascht werden kann.

Den Ball einfach nach vorne zu dreschen, mag der direkteste Weg vor das gegnerische Tor sein. Er ist aber selten erfolgversprechend. Hier kommt der Ballbesitzfußball ins Spiel, als spanisches »Tiki-Taka« totgesagt, aber bei englischen Mannschaften wie Manchester City erfolgreich, obzwar etwas ins Hintertreffen gegen Klopps FC Liverpool geraten. Nicht den Angriff des Gegners abwarten oder früh stören, sondern den Ball so oft wie eben möglich in den eigenen Reihen halten, darum gehe es, lautet die Devise des Ballbesitzfußballs.

Flache, schnelle Pässe sind das mächtige Mittel, sie müssen für den Gegner überraschend und vor allem außerordentlich präzise sein. Das erfordert mindestens so hohe Spielintelligenz wie Klopps fein abgestimmtes und auf Schnelligkeit gebautes Pressing- und Umschaltspiel. Je kürzer ein Spieler am Ball ist, je länger man also den Ball schnell laufen lässt, umso weniger muss der Spieler selbst laufen und umso schwerer ist es für den Gegner, ihn unter Druck zu setzen. »Der Ball hat die beste Kondition«, das wusste schon Sepp Herberger.

Auch hier präsentiert Escher ein Beispiel aus der Praxis: »Eine recht plastische Art, den Einfluss von Einzelspielern auf die Gesamtstruktur des Spiels zu erklären, ergibt sich, wenn man die Struktur von Manchester City mit der Struktur des FC Liverpool vergleicht.« Klopps Liverpool verfügt über ganz andere Spieler­typen als City. So sind etwa die nominellen Außenstürmer von Liverpool, Mohamed Salah und Sadio Mané, keine klassischen Dribbler, die nach schnellen Dribblings über außen den flachen Pass auf die klassischen Stürmer im Zentrum zirkeln, wie etwa der deutsche Nationalspieler Leroy Sané bei Manchester City einer war. Sondern sie sind eigentlich Torjäger, die über außen kommend durch die Mitte aufs Tor zulaufen.

Es wäre der größte Fehlschluss, aus Eschers Buch erfahren zu wollen, wie sich das perfekte Spiel planen ließe. Wie es keine exakt gleichen Spieler gibt, so gibt es auch keine exakt gleichen Taktiksysteme. Man muss vielmehr aufpassen, dass man sich im Meer der taktischen Ideen und Konzepten nicht verliert. Eschers »Schlüssel zum Spiel« ist ein Standardwerk über die Fußballkunst und zudem ein Nachschlagewerk für Trainer, Spieler und Fans, voll mit großen Linien und Details. Was ist eigentlich eine »falsche Neun« oder eine »abkippende Sechs«? Warum wird der Torwart plötzlich zum Abwehrspieler? In dem Buch ist einfach alles drin.

Escher sieht das Problem und wendet sich im Schlusskapitel direkt an die »lieben Leserinnen und Leser«: »Sie haben vermutlich die Hälfte nach dem Lesen bereits wieder vergessen. Keine Sorge: Mir geht es nicht anders.«

Tobias Escher: Der Schlüssel zum Spiel. Wie moderner Fußball funktioniert. Rowohlt, Hamburg 2020, 240 Seite, 15 Euro