Die griechische Neonazipartei Chrysi Avgi ist auch offiziell eine kriminelle Vereinigung

Der Führer geht in den Knast

Ein Berufungsgericht in Athen hat die neonazistische griechische Partei Chrysi Avgi als kriminelle Vereinigung eingestuft.

Großdemonstration trotz Pandemie: Zehntausende versammelten sich am Mittwoch vergangener Woche vor dem Gebäude des Athener Berufungsgerichts in der Alexandras Avenue. Die meisten trugen Mund-Nasen-Bedeckungen und skandierten rhythmisch antifaschistische Parolen wie: »Die Nazis ins Gefängnis!« Diese richteten sich gegen die neonazistische Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte). Eine Lautsprecherdurchsage begann mit den Worten: »Eure Aufmerksamkeit bitte, die Entscheidung des dreisitzigen Berufungsgerichts, die Goldene Morgenröte ist eine kriminelle Vereinigung …» Der Rest der Durchsage ging unter. Ohrenbetäubende Jubelschreie übertönten alles. Kurz zuvor hatte das Berufungsgericht die Partei nach Paragraph 187 des griechischen Strafgesetzbuchs als kriminelle Vereinigung eingestuft.

Der Fernsehmoderator Aris Portosalte bezeichnete die Antifaschisten, die vor dem Gerichtsgebäude in Athen demonstrierten, als Faschisten.


Es dauerte nur gestoppte 72 Sekunden, bis Polizisten der Sondereinheit MAT, die vor allem bei Demonstrationen eingesetzt wird, begannen, Blendgranaten und Tränengas in die Menge vor dem Gerichtsgebäude zu werfen. 2 000 MAT-Beamte waren im Einsatz. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Erstere spritzte mit ihren Wasserwerfern ungezielt in die Menge.

Einiges spricht dafür, dass viele griechische Polizisten, insbesondere in Athen tätige MAT-Polizisten, mit der Chrysi Avgi sympathisieren. In Griechenland ist es Polizisten erlaubt, in speziellen Wahllokalen zu wählen, die sich in der Nähe ihrer Dienststelle befinden. Bei den Parlamentswahlen im Mai und im Juli 2012 erhielt die Partei in elf solchen Wahllokalen in Athen mehr als doppelt so viele Stimmen wie im Athener Durchschnitt. 2012 zog die Partei erstmals ins griechische Parlament ein, bis 2019 war sie dort vertreten. Bei den Parlamentswahlen im Januar und im September 2015 wurde sie drittstärkste Kraft.

Das Ermittlungsverfahren gegen die Chrysi Avgi wurde im September 2013 eröffnet. Der Prozess vor dem Berufungsgericht in Athen dauerte über fünf Jahre. In dieser Zeit wurden mehrfach Aufnahmen abgehörter Gespräche ausgewertet, die direkte Verbindungen zwischen Mitgliedern von Chrysi Avgi und Polizeibeamten enthüllen. Im April 2018 hörten die Richter ein abgehörtes Telefongespräch zwischen ­einem leitenden Parteimitglied und einem MAT-Beamten, in dem der Be­amte das Parteimitglied anscheinend über das Verhalten linker Demonstranten informiert.

Das Berufungsgericht verurteilte sieben ehemalige Parlamentsabgeordnete der Chrysi Avgi wegen Führung einer kriminellen Vereinigung. Zu ihnen gehören der Parteigründer Nikolaos Michaloliakos, der sich von Parteimitgliedern als »Führer« anreden lässt, und der fraktionslose Europaabgeordnete Giannis Lagos. Elf ehemalige Parlamentsabgeordnete und zwei leitende Mitglieder aus dem Raum Piräus verurteilte das Gericht wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. In dem Prozess waren 68 Parteimitglieder wegen über 100 weiteren Straftaten angeklagt.

Auslöser des Prozesses war der Mord an dem antifaschistischen Rapper und Hafenarbeiter Pavlos Fyssas. In der Nacht vom 17. auf den 18. September 2013 hatte ein Schlägertrupp der Chrysi Avgi in der Athener Vorstadt Keratsini eine Gruppe angegriffen, die aus Fyssas, seiner Lebensgefährtin und Freunden der beiden bestand. Streifenpolizisten schauten teilnahmslos zu. Sie sahen, wie Fyssas sich dem Mob stellte, um seinen Freunden und seiner Lebensgefährtin die Flucht zu ermö­glichen. Er war das Ziel des Angriffs. Vor den Augen der Streifenpolizisten fuhr der Neonazi Giorgos Roupakias in falscher Richtung in die Einbahnstraße, in der sich das Geschehen abspielte. Er ging auf Fyssas zu, der mehrere Neonazis im Handgemenge in Schach hielt. Eine Polizistin rief: »Hey, nicht auch noch ein Messer«, blieb sonst aber tatenlos. Roupakias stach Fyssas ins Herz und drehte das Messer, um die Letalität der Attacke sicherzustellen. Erst wurden die Täter verhaftet. »Ich bin einer von euch«, sagte Roupakias zu den Polizisten. Fyssas starb in den ­Armen seiner Lebensgefährtin, konnte aber noch sagen: »Er hat mich erstochen.«

Das Athener Berufungsgericht verurteilte Roupakias wegen Mordes und 15 an dem Angriff beteiligte Neonazis wegen Beihilfe zum Mord. Bereits vor dem Mord an Fyssas hatten Parteimitglieder Migranten und Flüchtlinge angegriffen und getötet sowie linke und anarchistische Griechen teilweise schwer verletzt. Wenige Tage vor dem Mord an Fyssas hatten Parteimitglieder im an Keratsini angrenzenden Athener Stadtteil Perama Mitglieder der kommunistischen Gewerkschaft Pame angegriffen. Obwohl die Neonazis unter anderem mit Baseballschlägern bewaffnet waren, von ­denen einige mit Nägeln gespickten waren, beurteilte das Berufungsgericht diesen Angriff am Mittwoch voriger Woche nur als schwere Körperverletzung und nicht als versuchten Mord. Vier Parteimitglieder wurden wegen dieses Delikts verurteilt. Am 12. Juni 2012 hatten Parteimitglieder vier ägyptische Fischer in deren Wohnung in Perama überfallen. Das Berufungsgericht verurteilte fünf von ihnen wegen versuchten Mordes. Bereits im Mai 2019 waren zwei Parteimitglieder in einem anderen Verfahren wegen des Mordes an dem 27jährigen Pakistaner Shehzad Luqman im Januar 2013 zu 21 Jahren und fünf Monaten Gefängnis verurteilt worden.

Nach dem Mord an Fyssas hatte sich die damalige Regierung unter Ministerpräsident Antonis Samaras von der konservativen Nea Dimokratia (ND) genötigt gesehen, gegen rechtsextreme und rassistische Gewalt vorzugehen. Der damalige Minister für Bürgerschutz, Nikos Dendias (ND), legte eine dicke Akte mit zahlreichen mutmaß­lichen Straftaten der Neonazis vor. Der zuständige Staatsanwalt Isidoros Dojakos machte daraus eine Anklage wegen Bildung und Führung einer kriminellen Vereinigung sowie der erwähnten über 100 weiteren Straftaten. Nun ging es der Justiz nicht mehr darum, zahlreiche Einzelfälle zu beurteilen.

Das Strafmaß für die am Mittwoch voriger Woche Verurteilten stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Die wegen Führung einer kriminellen Vereinigung Verurteilten könnten bis zu 15 Jahre Haft erhalten, die wegen Mitgliedschaft in dieser Vereinigung Verurteilten bis zu zehn Jahre. 2019 hatte die Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras von der linken Partei Syriza eine Justizreform beschließen lassen, die die Höchststrafe für die Führung einer kriminellen Vereinigung von 20 auf 15 Jahre Haft herabsetzte.

Zudem behalten wegen dieses Delikts Verurteilte, anders als zuvor, während der Haftzeit ihr aktives und passives Wahlrecht. Roupakias wird wahrscheinlich zu lebenslanger Haft verurteilt werden. Seinen Mittätern drohen bis zu acht Jahren Haft, ebenso wie den Parteimitgliedern, die wegen des versuchten Mordes an den Fischern in Perama verurteilt wurden. Es wird erwartet, dass die wegen des Angriffs auf die Pame-Mitglieder Verurteilten lediglich Bewährungsstrafen erhalten werden.

Einige Politiker, insbesondere der ND, und Journalisten, insbesondere des privaten Fernsehsenders Skai, zeigten in den vergangenen Jahren Verständnis für die Neonazis. Der ehemalige Skai-Journalist Babis Papadimitriou ist inzwischen Parlamentsabgeordneter der ND. Am 12. September 2013, nur wenige Tage vor dem Mord an Fyssas, sagte er auf Skai: »Wir brauchen eine seriöse Chrysi Avgi.«

Constantinos Bogdanos, ebenfalls ein ehemaliger Skai-Journalist und mittlerweile Parlamentsabgeordneter der ND, meinte, während des Prozesses im griechischen Fernsehen anmerken zu müssen, Roupakias tue ihm leid. Er sah den Mörder als Opfer des Hasses von Fyssas’ Mutter, Magda Fyssas, da diese vor Gericht eine Plastikflasche auf Roupakias geworfen und versucht hatte, ihn an­zuspucken. Der Skai-Moderator Aris Portosalte mutmaßte nach dem Mord an Fyssas, dieser sei wegen eines Streits über ein Fußballspiel ermordet worden. Am Mittwoch voriger Woche bezeichnete er die Antifaschisten, die vor dem Gerichtsgebäude in Athen demonstrierten, als Faschisten.

»Du hast viele Kinder, Mutter!« Mit diesem Zitat des Dichters Giannis Ritsos (1909–1990) und einer Skizze von Magda Fyssas kommentierte der Karikaturist Panos Zacharis das Urteil. Der unermüdliche Einsatz der Familie Fyssas, die aufopfernde, größtenteils pro bono erfolgte Arbeit der Anwälte der Nebenklage und zahlreiche Solidaritätsveranstaltungen, bei denen Geld gesammelt wurde, haben zur Verurteilung der Parteimitglieder beigetragen.

Viele in Griechenland werten die Einstufung der Chrysi Avgi als kriminelle Vereinigung als historisches Urteil. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zunächst wegen des griechischen Bürgerkriegs (1946–1949) keine großen Prozesse gegen Kollaborateure der Nationalsozialisten geführt. Während des Kalten Kriegs ließen die Herrschenden dann hauptsächlich Kommunisten verfolgen. Kollaborateure erhielten dagegen hohe Verwaltungsposten. So gesehen ist es verständlich, wenn auch unangemessen, dass nun viele in Griechenland von den »griechischen Nürnberger Prozessen« sprechen.