Bürger anderer EU-Staaten mit schulpflichtigen Kindern haben Anspruch auf Arbeitslosengeld II

Mit einem Fuß am Abgrund

In Deutschland lebende Bürgerinnen und Bürger anderer EU-Staaten mit schulpflichtigen Kindern sollen einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zufolge bei Verlust ihres Arbeitsplatzes künftig Anspruch auf Sozialleistungen haben. Doch viele Unsicherheiten bleiben.

Ob in der Fleischindustrie, auf dem Spargelfeld oder in der Baubranche – die prekären Arbeitsbedingungen der meist aus Osteuropa stammenden Wanderarbeiter werden seit Beginn der Covid-19-Pandemie schärfer kritisiert. Dass EU-Bürgerinnen und -Bürger nach deutschem Recht von sozialer Absicherung oft ausgeschlossen sind, wurde hingegen kaum thematisiert; dabei hatte der Bundestag 2016 arbeitslose Eltern aus EU-Staaten von Kindern in Ausbildung ausdrücklich von Sozialleistungen nach dem SGB II, besser als Hartz IV bekannt, ausgeschlossen.

Am Dienstag vergangener Woche hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Rechte dieser Eltern gestärkt: Sozialleistungen sind Ausländern aus EU-Staaten demnach zu gewähren, wenn sich in Deutschland schulpflichtige Kinder betreuen. Geklagt hatte ein polnischer Staatsbürger, der seit 2013 mit seinen Töchtern in Deutschland lebte und Arbeitslosengeld II (ALG II) bezog, nachdem er seine Arbeitsstelle verloren hatte. 2017 verweigerte das Jobcenter dann die weitere Auszahlung der Leistungen und begründete dies damit, dass der Mann sich nur noch zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhalte, was dem deutschen Sozial­gesetzbuch zufolge einen Leistungsanspruch ausschließe. Entsprechende Leistungen einem Vater schulpflich­tiger Kinder zu verweigern, verstößt gegen EU-Recht, wie der EuGH feststellte.

Ob auch die Jobcenter das Urteil beachten werden, hängt davon ab, ob die Bundesagentur für Arbeit sie entsprechend anweist. Deren Sprecher sagte, man sei »in Konsultationen mit dem Bundesministerium für Arbeit und ­Soziales, wie das Urteil in der Praxis umzusetzen ist«.

Für Unionsbürgerinnen und -bürger dürfte das Urteil bereits kurzfristig Auswirkungen haben. Zwar kann der EuGH die nationalen Gesetze der EU-Mitgliedstaaten nicht für unwirksam erklären. Das Urteil zur Leistungsberechtigung arbeitsloser Eltern von Kindern in Ausbildung wirke sich aber ­direkt auf die nationale Rechtsprechung aus, sagte Jutta Siefert, Richterin am Bundessozialgericht, der Jungle World: »Es ist davon auszugehen, dass das ­Urteil in der deutschen Sozialgerichtsbarkeit Beachtung finden wird und dass Bescheide, die auf diesem konkreten Ausschlussgrund beruhen, wohl keinen Bestand haben werden.«

Ob auch die Jobcenter das Urteil beachten werden, hängt davon ab, ob die Bundesagentur für Arbeit sie entsprechend anweist. Deren Sprecher sagte, man sei »in Konsultationen mit dem Bundesministerium für Arbeit und ­Soziales, wie das Urteil in der Praxis umzusetzen ist«. Das Bundesministerium erklärte auf Anfrage der Jungle World, man wolle die Bundesagentur für Arbeit auffordern »entsprechend dem Urteil zu verfahren«.

Claudius Voigt von der »Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e. V.« zufolge arbeiten Beratungsstellen bereits an Muster­widersprüchen und -anträgen. Hilfesuchenden rieten sie, gegen ablehnende Bescheide Widerspruch einzulegen und gegebenenfalls Eilanträge vor dem Sozialgericht einzureichen. Voigt sagte der Jungle World, er freue sich über das EuGH-Urteil, betrachte die Rechtslage in Deutschland grundsätzlich jedoch kritisch. In andersgelagerten Fällen hätten Unionsbürger weiterhin keine Ansprüche auf reguläre Sozialleistungen. Im schlechtesten Fall stünden sie vollkommen mittellos dar – etwa wenn sie sich auf Arbeits­suche befinden, noch nicht gearbeitet und keine schulpflichtigen Kinder ­haben. In diesen Fällen entstünden in der Regel erst nach fünf Jahren Auf­enthalt Ansprüche auf Sozialleistungen. Nicht wenige würden in dieser Zeit obdachlos.

Dass der vollständige Ausschluss aus dem Sozialsystem gegen das Grund­gesetz verstoßen könnte, stellte das Bundesverfassungsgericht bereits Anfang des Jahres fest. Unter Berufung auf frühere Urteile, in denen das »Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums« für deutsche und ausländische Staatsangehörige gleichermaßen anerkannt wurde, heißt es in dem Beschluss: »Sowohl die Auffassung, der Leistungsausschluss sei verfassungskonform, als auch die Gegenauffassung berufen sich mit jeweils nicht von vornherein unvertretbaren Argumenten auf diese Rechtsprechung.«

Im Bundestag forderten Grüne und Linkspartei, EU-Bürgerinnen und -Bürger besser abzusichern. »Die Tatsache, dass arbeitssuchende Unionsbürger von Sozialleistungen pauschal ausgeschlossen werden, höhlt das Freizügigkeitsrecht aus und ebnet den Weg in prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie Obdachlosigkeit«, sagte die innenpolitische Sprecherin der Fraktion der Linkspartei, Ulla Jelpke, der Jungle World. Wolfgang Strengmann-Kuhn, der Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag für Sozialpolitik, forderte, dass »alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die in Deutschland leben und nach Arbeit suchen, ab dem vierten Monat ihres Aufenthalts Anspruch auf Sozialleistungen und Integrationsangebote ­haben und somit Inländern gleichbehandelt werden«.

In der Regierungskoalition verweist man dagegen auf Sozialleistungen in den Herkunftsländern und die Möglichkeit, in diese zurückzukehren. Handlungsbedarf sieht man nicht. »Die Ausbeutung von Wanderarbeitnehmerinnen und Wanderarbeitern hat nichts mit dem Sozialleistungsausschluss zu tun, sondern mit krimineller Energie von Personen und Unternehmen«, sagte die SPD-Abgeordnete Dagmar Schmidt.

In den Wohlfahrtsverbänden sieht man das anders. Das Problem sei ­allerdings nicht nur die Rechtslage, sondern auch die Verwaltungspraxis. Vorläufige Ergebnisse einer aktuellen Umfrage der Verbände bei den Beratungsstellen ergeben, dass auch bestehende Ansprüche, wie etwa auf Übersetzung durch einen Dolmetscher, in vielen Fällen nicht gewährt würden. Natalia Bugaj-Wolfram,Referentin für Migrationssozialarbeit beim Paritätischen Wohlfahrtsverband verwies im Gespräch mit der Jungle World auf die Aufsichtsbehörden.

Diese sollten EU-Bürger über ihre Rechte aufklären und Schulungen für Sachbearbeiter anbieten. »Und es müsste für ein europafreundliches Denken geworben werden«, so Bugaj-Wolfram. »Vielfach herrscht Angst vor Einwanderung. Dabei ist die Freizügigkeit ja gewollt – und eine Chance für die ganze Gesellschaft.«