Im Gespräch mit der Epidemiologin Susanne Moebus über das urbane Leben in der Pandemie

»Der Zusammenhang von Armut und Krankheit ist alt«

Die Biologin und Epidemiologin Susanne Moebus leitet das neu gegründete Institut für Urban Public Health (InUPH) der Universität Duisburg-Essen und forscht zu Epidemiologie im städtischen Umfeld. Mit ihr sprach die »Jungle World« über den Zusammenhang zwischen ­Urbanität und Gesundheit sowie die Rolle von Stadt­planung in der Pandemie.
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Frische Luft, wenig Lärm und viel Platz zum Bewegen – lebt es sich auf dem Land gesünder als in der Stadt?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Es kommt darauf an. Wenn man sich die Zahlen ansieht, leben die Menschen in der Stadt ja länger als auf dem Land. Ob man das Lebensalter kausal mit der Gesundheit verknüpfen muss, ist strittig. Schließlich kann man auch gesund sterben, ohne vorher krank gewesen zu sein. Oder Menschen können sehr lange schwer krank sein, ohne zu sterben.

Gibt es also in der Stadt auch gesundheitsfördernde Faktoren?

In der Stadt gibt es eine gute medizinische Versorgung. Ich komme schneller zum Arzt oder ins Krankenhaus. Aber auch kulturelle Einrichtungen und so­ziale Netzwerke spielen für ein gesundes Leben eine wichtige Rolle. Da gibt es in der Stadt viel mehr Möglichkeiten. Das Bildungsangebot ist dort besser, ebenso sind es die Arbeitsmöglich­keiten. Und selbst die Fortbewegung ist in der Stadt besser als auf dem Land: Viele Wege können per Fahrrad oder zu Fuß erledigt werden, während Entfernungen auf dem Land so groß sind, dass oft nur das Auto als Fortbewegungsmittel bleibt.

Und trotzdem ist auch die Stadt kein Wellness-Paradies.

In der Stadt gibt es Lärm und schlechte Luft. Das ist aber nicht alles. Es gibt auch andere Faktoren, die sich negativ auf unser Leben auswirken, wie etwa Angst und Unsicherheit aufgrund von Straßen- oder Beschaffungskriminalität. Soziale Konflikte äußern sich in der Stadt oft heftiger. Es gibt mehr Verkehrsunfälle.

Und was ansteckende Krankheiten angeht: Ist das Risiko, sich zu infizieren, in Städten höher?

Ja, das Risiko ist höher. Das kann man ganz einfach physikalisch erklären. Der Abstand zu den Mitmenschen ist kleiner als auf dem Land. Ländliche ­Gebiete sind weniger dicht besiedelt. Die Übertragung von Infektionen ist in Ballungsgebieten daher wahrscheinlicher als in dünn besiedelten. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass die Städte momentan so hohe Zahlen von Covid 19-Infizierten aufweisen. Es gibt natürlich auch Ausbrüche auf dem Land. Die gibt es überall. Aber die schnelle, kontinuierliche Ausbreitung sehen wir jetzt eher in den Städten.

Was ist während der Covid-19-Pandemie in der Stadt nötig, um Menschen ein soziales Leben und genug Bewegung zu gewährleisten?

Die Menschen brauchen Möglichkeiten, sich in Räumen zu bewegen, wo sie nicht dicht gedrängt werden, Möglichkeiten, rauszugehen und Abwechslung zu haben. Sie brauchen Orte, um sich zu treffen. Die Kinder brauchen ausreichend große Spielplätze. Diejenigen, die einen Garten oder einen Balkon haben oder die Möglichkeit, in ihrer Umgebung spazieren zu gehen, können beispielsweise einen lockdown besser wegstecken als die, die in einem tristen Umfeld wohnen mit wenig Möglichkeiten zur kulturellen oder sportlichen Betätigung.

Über den Berliner Bezirk Neukölln wurde in den vergangenen Wochen viel gesprochen. Dort ist die Zahl der Neuinfektionen sehr hoch. Neukölln ist auch der ärmste Bezirk ­Berlins. Gibt es da einen Zusammenhang?

Wir wissen, dass es in solchen Gegenden viele Gesundheitsprobleme gibt. Es gibt mehr übergewichtige Menschen und Leute mit sehr ungesunden Lebensstilen. Oft wird dann behauptet, die Leute seien selbst schuld, sie verhielten sich unverantwortlich. Im Bereich Public Health legen wir den Schwerpunkt aber mehr auf die sozialen Verhältnisse und wollen victim blaming vermeiden. Die ­Betroffenen müssen nämlich sehr hohe Risiken tragen und ­haben aufgrund von Herkunft, Bildung und Einkommen weniger Möglich­keiten, diese zu bewältigen. Das beengte Wohnen ist dabei nur ein Aspekt.

Welche Faktoren sind außerdem ­relevant?

Bevölkerungsgruppen mit einem niedrigen Einkommen sind grundsätzlich stärker von Katastrophen wie der derzeitigen Pandemie und deren kurz- und langfristigen Auswirkungen betroffen. Mit dem Infektionsgeschehen selbst hat das wenig zu tun. Der Zusammenhang von Armut und Krankheit ist alt. Er war schon vor der Covid-19-­Pandemie da und wird auch danach bestehen bleiben.

»Es fehlt den Kommunen und der Stadtplanung an innovativen Ideen, wie man das soziale Leben unter den Bedingungen der Pandemie aufrechterhalten kann.«

Dennoch kann man die Menschen natürlich nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Auch sie müssen sich ihren Mitmenschen gegenüber verantwortlich verhalten. Und ich bin mir sicher, dass auch in ärmeren Stadtteilen viele dies tun. Eigenverantwortung kann aber nur dann eingefordert werden, wenn das soziale Umfeld unterstützend ist.

Frauen haben im vergangenen halben Jahr oft mehr häusliche Gewalt erlitten – vor allem dann, wenn Familien in Quarantäne gehen mussten oder in akute finanzielle Not geraten sind.

Das hat natürlich nichts mit Herkunft oder Schichtzugehörigkeit zu tun. Denn häusliche Gewalt kommt überall vor. Der Unterschied zwischen verschiedenen sozialen Schichten besteht jedoch unter anderem darin, wer sich Hilfe organisieren kann und wer nicht.

Ist ein »lockdown« überhaupt ein wirksames Mittel zur Pandemie­bekämpfung?

Wenn man eine Pandemie eindämmen will, dann ist es wichtig, die physikalische Übertragung zu verhindern. Wenn die Kontakte extrem reduziert werden, kann sich das Virus nicht ausbreiten. Die Frage ist nur, welche Auswirkungen das hat und ob die Folgen dieser Einschränkungen an einigen Stellen nicht vielleicht zu heftig werden, etwa wenn Schulbildung ausschließlich zu Hause stattfindet. Die epidemiologischen Vorteile und die sozialen Nachteile muss man gegeneinander abwägen. Insbesondere in armen oder armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen würde ein lockdown großen Schaden verursachen. Es fehlt den Kommunen und der Stadtplanung an innovativen Ideen, wie man das soziale Leben unter den Bedingungen der Pandemie aufrechterhalten kann – auch im Winter. Es gibt viele gute Ideen, die jetzt systematisch gesammelt werden müssten, um die Angst vor der Isolation zu verlieren. Natürlich sind wir alle genervt und wollen, dass das Virus verschwindet. Aber bis dahin müssen wir eben nach neuen Formen des Zusammenseins suchen und nach vorne schauen.