In Frankreich regt sich Unmut wegen der Pandemiemaßnahmen der Regierung

Sperrstunde in Frankreich

Während in Frankreich die Infektionszahlen steigen, wächst auch der Unmut über die Pandemiemaßnahmen der Regierung.

Fast täglich verzeichnete Frankreich vorige Woche neue Höchstzahlen gemeldeter Covid-19-Infektionen. Am Sonntag waren es erstmals mehr als 50 000 Fälle, doppelt so viele wie in Italien und fünfmal so viele wie in Deutschland.

Der Anstieg der Neuinfektionen geht nicht auf vermehrte Covid-19-Tests zurück. Seit vier Wochen wird tatsächlich mehr getestet; dass dies nicht früher geschah, lag an der schlechten Planung der Behörden und der gesetzlichen Krankenversicherung. Sogenannte Kontaktfälle mussten noch im September oft bis zu elf Tage auf ein Testergebnis warten. Viele Betroffene hielten daher einen Test für sinnlos. Im Oktober stieg der Anteil der positiven Ergebnisse zunächst ebenso wie die Zahl der Tests, von etwas zehn auf zwölf bis 13 Prozent, und blieb im Laufe der vorigen Woche tendenziell stabil. Auch bei einer gleichbleibend geringen Anzahl von Tests wären folglich mehr neue Fälle registriert worden – anders als Kritiker behaupten.

Die Bevölkerung unterstützt die Maßnahmen gegen die Pandemie nicht mehr so stark wie im März und April. Damals war eine große Mehrheit mit Einschränkungen zum Zwecke des Gesundheitsschutzes im Prinzip einverstanden und akzeptierte den zeitweiligen lockdown. Allerdings ergaben Umfragen regelmäßig, dass die Mehrzahl der Befragten der Regierung Dilettantismus bei der Bekämpfung der Pan­demie vorwarf. Es habe in der Anfangsphase vielfach am dafür Nötigen gefehlt, beispielsweise gab es zu wenig Mund-Nasen-Masken.

Der Mediziner Jean-François Delfraissy sitzt einem wissenschaftlichen Be­ratungsgremium vor, das die Regierung bei der Bekämpfung der Pandemie ­berät. Er fordert einen neuen lockdown. Bislang erließ die Regierung nur eine abendliche Ausgangssperre, doch selbst dagegen äußert sich mehr Widerwillen als im Frühjahr.

Bisher gibt es in Frankreich nichts, was mit den großen Coronaprotesten in Deutschland vergleichbar wäre. Die Maskenpflicht rief bislang eher individuelle Unmutsbekundungen hervor, jedoch kaum politischen Protest, von kleinen Kundgebungen abgesehen. Als am 29. August in Berlin Zehntausende gegen die Pandemiemaßnahmen demonstrierten, protestierten auf der Pariser Place de la Nation gerade einmal zwischen 200 und 300 Menschen. Unter ihnen befanden sich neben Anhängern der aus den USA stammenden Qanon-Verschwörungstheorie auch übrig gebliebene Anhänger der »Gelb­westen«-Proteste von 2018 und 2019.

Wesentlich mehr Aufsehen erregen Proteste gegen der Einschränkungen in der Gastronomie. Erstmals erließ die Zentralregierung Ende September eine regionale Sperrstunde für alle Gaststätten im Raum Marseille. Die Bürgermeisterin Michèle Rubirola von der Partei EÉLV, den französischen Grünen, beschwerte sich, die Zentralregierung habe weder sie noch die Interessenverbände der Gastronomen konsultiert. Der konservativen Regionalpräsident Re­naud Muselier reichte gegen die Maßnahmen eine Verwaltungsklage ein.

Seit knapp zwei Wochen gilt auch im Großraum Paris eine Ausgangssperre von 21 bis sechs Uhr. Diese hat die Regierung am Samstag noch auf weitere Teile des Landes ausweitete, seither betrifft sie rund zwei Drittel der Bevölkerung Frankreichs. Eine Reportage im privaten Fernsehsender BFM TV zog am Wochenende sogar historische Parallelen zu den Ausgangssperren während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944, während des Algerien-Kriegs 1961 und während der Unruhen in den Pariser Banlieues 2005. Die am Dienstag und Mittwoch tagenden beiden Krisenstäbe der Regierung diskutierten die Optionen eines lockdown wie im Frühjahr, regionaler lockdowns oder einer Verschärfung der bestehenden Ausgangssperre, die dann schon ab 19 Uhr, am Wochenende und für ganz Frankreich gelten solle. Eine Entscheidung war bis Redaktionschluss nicht gefallen.

Umstritten ist in der Öffentlichkeit auch, dass es tagsüber erlaubt ist, zu arbeiten und die überlasteten öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen – die Regierung spricht von »Rücksichtnahme auf die Wirtschaft« –, abends auszugehen hingegen nicht. Die linken Parteien La France insoumise und NPA griffen diese Kritik an den Maßnahmen auf. In Paris fanden außerdem kleinere Kundgebungen statt, an denen sich Personen aus dem Umfeld der »Gelbwesten« und anarchistischer Gruppen beteiligten. Eine von den »Gelbwesten« dominierte Demonstration fand am 16. Oktober im Stadtzentrum, eine eher den antiautoritären Linken nahestehende am Freitag im Stadtteil Belleville statt.