Der Waffenstillstand in Berg­karabach und die Rolle Russlands

Unter russischer Aufsicht

Nach Unterzeichnung eines Abkommens zwischen Russland, Aserbaidschan und Armenien ist in Bergkarabach ein Waffenstillstand in Kraft getreten.

Nun schweigen die Waffen. In der Region Bergkarabach ist nach sechs Wochen erbitterter Kämpfe mit vermutlich Tausenden Todesopfern in der Nacht auf den 10. November ein Waffenstillstand in Kraft getreten. Grundlage war ein von Russland, Armenien und Aserbaidschan am Vortag unterzeichnetes Abkommen. Darin verpflichtet sich Armenien, drei um Bergkarabach liegende Gebiete, die aserbaidschanische Truppen im Verlauf des Kriegs erobert hatten, an Aserbaidschan zu übergeben. Obendrein erhält Aserbaidschan Zugriff auf den zu Bergkarabach gehörigen Ort Schuscha mit seiner Festung, die über Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs, thront.

Der rechtliche Status von Bergkarabach mit seiner überwiegend armenischen Bevölkerung findet in dem Text keine Erwähnung. Nach internationalem Recht gehört die Republik Arzach, wie Bergkarabach sich nennt, zu Aserbaidschan. Festgeschrieben ist in dem Abkommen die Einrichtung eines engen Korridors, über den die Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien aufrechterhalten werden soll. Ein russisches Militärkontingent von 1 960 Soldaten erhält den Auftrag, mit seiner vorerst auf fünf Jahre festgelegten Präsenz in der Region dafür zu sorgen, dass beide Seiten sich an das Abkommen halten. Wenn keine Seite Widerspruch einlegt, verlängert sich das Mandat nach Ablauf dieser Frist um weitere fünf Jahre.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte in den vergangenen Jahren vergeblich versucht, im Konflikt um Bergkarabach ein ähnliches Abkommen wie das nun geschlossene durchzusetzen.

1994 hatte Armenien den Krieg um die kleine Region mit rund 150 000 Einwohnerinnen und Einwohnern gewonnen. Nun steht es als Verlierer da. Mit modernster Militärtechnik ausgestattet, darunter türkische und israelische Kampfdrohnen, war die aserbaidschanische Armee klar im Vorteil; auch von türkischen Mittelsmännern angeworbene syrische Söldner kämpften auf aserbaidschanischer Seite. Am 8. November hatte Aserbaidschan Schuscha eingenommen, die Besetzung Stepanakerts drohte. Erst zu diesem Zeitpunkt fruchteten die Bemühungen Russlands um einen Waffenstillstand.

Die armenische Führung ist inzwischen innenpolitisch unter Druck ge­raten. Ministerpräsident Nikol Paschinjan rechtfertigte das Abkommen damit, dass andernfalls eine totale Niederlage unausweichlich gewesen wäre. Er verwies darauf, dass auch der Generalstab der armenischen Armee hinter dem Abkommen stehe. Auch Araik Arutjunjan, der Präsident der Republik Arzach, sah aufgrund großer Gebietsverluste keinen anderen Ausweg.

Vielen gilt Paschinjan nun als Verräter. Am 10. November stürmten Gegner des Abkommens das Parlamentsgebäude in der armenischen Hauptstadt Eriwan, seither protestieren sie auf der Straße. Die Protestierenden verlangen Paschinjans Rücktritt, im Parlament gab es bislang keine Debatte über diese Forderung. Paschinjans Parteienbündnis »Mein Schritt« verfügt dort über eine deutliche Mehrheit. Doch es ist sich nicht gänzlich auszuschließen, dass Teile der Opposition die angespannte Situation nutzen werden, um Paschinjan mit anderen Mitteln aus dem Amt zu treiben; 2018 hatte dieser an der Spitze der Demokratiebewegung die alte Oligarchie um die Republikanische Partei entmachtet, nun drohen einige der früheren Drahtzieher mit einem Putsch.

Aserbaidschans Führung triumphiert auf ganzer Linie. Präsident Ilham Alijew sagte, der zweite Krieg um Bergkarabach werde als »ruhmreicher Sieg Aserbaidschans« in die Geschichte eingehen. Der Rückhalt für Alijew in der Bevölkerung ist groß, doch ohne die Unterstützung der Türkei würde er die militärisch-propagandistischen Erfolge wohl nicht errungen haben.

Aserbaidschanische Flüchtlinge dürfen unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Gebiete in und um Bergkarabach zurückkehren, aus denen sie vor 26 Jahren vertrieben worden waren. Ende voriger Woche zündeten in der Region lebende Armenier ihre Häuser an, damit diese nicht Aserbaidschan in die Hände fallen; bis zur Unterzeichnung des Abkommens waren rund 100 000 Menschen aus Bergkarabach geflohen. Der Großteil der Region bleibt in armenischer Hand und damit de facto unter russischer Kontrolle. Das scheint nicht ganz zu Alijews Rede von einem ruhmreichen Sieg zu passen.

Es ist unklar, ob Aserbaidschan überhaupt daran gelegen gewesen wäre, Stepanakert zu erobern, falls Armenien nicht eingelenkt hätte. Denn die Einnahme der Stadt hätte viele zivile Opfer zur Folge haben können. Die internati­onale Kritik, die wahrscheinlich darauf gefolgt wäre, hätte womöglich die jetzt erzielten Gebietsgewinne gefährden können. Nun trägt Russland die Verantwortung für die Sicherheit in dem ­Konfliktgebiet – und das mit einer bescheidenen Truppenstärke.

Russisches Militär drohte lediglich dann mit einem Gegenschlag, wenn aserbaidschanische Einheiten armenisches Territorium angreifen sollten. Im Übrigen hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow in den vergangenen Jahren vergeblich versucht, auf ­diplomatischem Weg ein ähnliches Abkommen wie das nun unterzeichnete durchzusetzen – freilich mit dem Unterschied, dass ganz Bergkarabach einem russischen Friedenskontingent unterstehen sollte. Die USA, Frankreich und andere europäische Staaten, die an Verhandlungen beteiligt waren, hatten das stets abgelehnt.

Die Türkei will indes eigene Friedenstruppen nach Bergkarabach entsenden, obwohl das Abkommen das nicht vorsieht. Lawrow lehnt solche Einsätze ab. Er betonte, es seien lediglich Beratungen mit türkischen Militärexperten vorgesehen. Für allseitige Verwunderung sorgte die Gelassenheit Russlands, nachdem Aserbaidschan kurz vor Unterzeichnung des Abkommens außerhalb der Kampfzone einen russischen Militärhubschrauber abgeschossen hatte, nach eigenen Angaben versehentlich; zwei russische Soldaten wurden dabei getötet. Zu diesem Zeitpunkt wollte vermutlich niemand das wichtige Abkommen gefährden.

Zudem waren am 26. Oktober in der syrischen Provinz Idlib nach einem russischen Bombenangriff auf ein Ausbildungslager 78 Angehörige der von der Türkei unterstützten Miliz Faylaq al-Sham ums Leben gekommen. Das dürfte auch als Zeichen Russlands gedeutet werden, dass es die unverhohlene militärische Unterstützung Aserbaidschans durch die Türkei missbilligt.

Die internationalen ­Konstellationen im Konflikt um Bergkarabach werden komplexer. Armenien hat nicht nur militärisch verloren und eine innenpolitische Krise zu ­bewältigen. Auch die Abhängigkeit des Landes von Russland, seinem einzigen verbliebenen Partner, hat sich verstärkt.