Diane ­Obomsawins Comic »Ich begehre Frauen«

Absolute Beginnerinnen

Diane Obomsawin lässt in einem hinreißenden Comic lesbische Frauen unterschiedlichen Alters über ihre ersten sexuellen Erfahrungen sprechen. »Ich begehre Frauen« ist auch eine Geschichte homosexueller Emanzipation.

Zum ersten Mal verliebt zu sein, ist eine einschneidende Erfahrung, die immer im Gedächtnis bleibt. In ihrem Comic »Ich begehre Frauen« erzählt die frankokanadische Illustratorin Diane Obomsawin, auch bekannt ­unter ihrem Pseudonym Obom, Geschichten von der Universalität der ersten Liebe aus der Perspektive lesbischer Frauen.

Der Comic erschien in Kanada 2014 unter dem Titel »J’aime les filles« bei L’Oie de Cravan und noch im selben Jahr auf Englisch als »On Loving Women« im renommierten US-amerikanischen Verlag Drawn and Quarterly. Jetzt hat der Schweizer Verlag Edition Moderne eine deutsche Übersetzung veröffentlicht. Der Band versammelt zehn Liebesgeschichten, die allesamt authentisch sind. Obomsawin hatte Bekannte und Freundinnen gebeten, ihr von der ersten Verliebtheit zu erzählen. Die einzelnen Kapitel, die den Vornamen der jeweiligen Erzählerin im Titel tragen, lesen sich wie ein Auszug aus dem persönlichen Tagebuch eines Mädchens, und jede Geschichte ist spannender und bezaubernder als die vorherige.

Wenn ein junges Kaninchen bei seinem ersten Besuch in einer Lesbenbar von einem Stammgast angesprochen wird, weiß die Frauenheldin genau, was sie sagen muss: »Du hast schöne Ohren!«

Ihre kunstvoll reduzierten Bildgeschichten beschreiben einfühlsam die Zeit des Erwachsenwerdens und des Coming-out. Dabei umfasst ­keine Geschichte mehr als eine Handvoll schwarzweißer Panels. Skurril und manchmal auch traurig und schmerzhaft erinnern die Episoden an die Ängste und Unbeholfenheiten bei der ersten Annäherung – und an das überwältigende Gefühl, wenn es passiert: die erste Berührung, der erste Kuss, der erste Sex.

Diane Obomsawins Stil erinnert an Comiczeichner wie Jason und Art Spiegelmann sowie an den US-amerikanischen Pop-Art-Künstler Keith Haring, nicht zuletzt, weil auch ihre mit sparsamen Strichen gezeichneten Figuren tierische Züge haben. In einem Interview mit dem Online-Magazin CBR schildert Obomsawin, warum dieser Verfremdungseffekt die Darstellung von Intimität erleichtert und eine angenehme Distanz ermöglicht. Die Mädchen und Frauen sind andeutungsweise als Pferde, Bären, Hasen oder Mäuse dargestellt. Die Zeichnungen wirken süß, zugleich radieren sie alle Unterschiede, etwa die des Alters oder der Hautfarbe, aus. Die Figuren werden dadurch universal und zugänglich. Wenn ein junges Kaninchen etwa bei seinem ersten Besuch in einer Lesbenbar von einem Stammgast angesprochen wird, weiß die Frauen­heldin genau, was sie sagen muss: »Du hast schöne Ohren!«

In manchen Momenten aber scheinen die animalischen Züge zu verblassen. Wenn die heranwachsende Diane im Fernsehen eine Szene aus dem zum lesbischen Kultfilm avancierten deutschen Spielfilm »Mädchen in Uniform« von 1931 betrachtet, verschwindet ihr kleiner Hundekopf fast aus dem Bild, man sieht nur noch zwei große Augen aus dem Dunkeln schauen – eine wunderbar eindrückliche Darstellung des sexu­ellen Erwachens. Als Diane irgendwann all ihren Mut zusammengenommen und den Fernseher wieder eingeschaltet hat, ist der Film bereits vorbei. Es läuft eine Zirkusvorstellung. Wo sich gerade noch zwei Mädchen küssten, balanciert jetzt ein Elefant auf einem Hocker.

Diane Obomsawin ist 1959 geboren und wuchs, wie sie im Interview auf CBR erzählt, in einem Klima sexueller Liberalisierung auf, das die vorangehende Frauengeneration erst hatte erkämpfen müssen. Daher war es ihr besonders wichtig, auch die Pionierinnen der Lesbenbewegung zu Wort kommen zu lassen. Die Frauen, mit denen sie über ihr Coming-out sprach, waren zwischen 30 und 70 Jahre alt. Einige Erzählungen erinnern an eine Zeit, als homosexuelle Handlungen noch als anrüchig galten oder gesetzlich verboten waren.

Obomsawins hinreißender Episoden-Comic erzählt auch eine Geschichte lesbischer Frauen in Kanada. Dazu gehören auch deren Treffpunkte. Maxime etwa geht ins »Baby­face«, eine der ersten Lesbenbars in Montreal: »In den Toiletten ging es heiß zu und her.« Das Szenelokal »Brasserie Alouette« war ein bekannter Treffpunkt von butches, die »je sechs Bier tranken«.

»Ich begehre Frauen« erinnert bisweilen an Alison Bechdels Comicstrip »Dykes to Watch Out For«, der vom lesbischen Leben in der US-amerikanischen Gesellschaft handelt. Wie Bechdel, die in ihren Strips die Politik der Zeit verhandelt, verwebt Obomsawin die persönlichen Erinnerungen ihrer Protagonistinnen mit den gesellschaftlichen Veränderungen in den siebziger Jahren.

Jede Erzählung schafft es auf Anhieb, Interesse für die jeweilige Protagonistin zu wecken: für Charlotte, die auf eine Klosterschule ging, ebenso wie für Diane, die das Zorrokostüm des Bruders trägt, und für Mathilde, die nach Pferden verrückt ist und sich nur in Frauen mit Pferdegesichtern verliebt. Andere Geschichten handeln von Schülerinnen, die aus der Stadt wegziehen müssen, nachdem die Eltern entdeckten, dass die Tochter in eine Mitschülerin verliebt ist, oder von mutigen Mädchen, die der Lehrerin auf dem Schulflur ihre Liebe gestehen.

Oft wird man in die Details der sexuellen Begegnungen eingeweiht. Eine der Geschichten endet mit einem Dreier, bei dem die Protagonistin – sie hat keinen Namen, sondern wird nur mit M.-H. abgekürzt – erst ihre Jungfräulichkeit und dann das Gleichgewicht verliert und aus dem Bett plumpst. Mit wenigen Strichen werden verschiedene Sexpraktiken auf charmante Weise gezeichnet.

Obomsawin hat keine Angst vor Klischees. Ihre Figuren sagen ganz unironisch Sätze wie »Es war Liebe auf den ersten Blick« oder »Es traf mich wie ein Donnerschlag«. Dabei gelingt es ihr, komplexe traurige Momente zu täuschend einfachen, scheinbar unverbundenen Text­blöcken zu verdichten. Das macht die Geschichten schnell und lebendig: »Wir hatten nur einander. Keine Anhaltspunkte. Dann gingen wir auf eine Reise. Wir zogen zu dritt los. Sie dampfte mit der anderen ab. Ich war total geschockt«, heißt es in einer Geschichte.

Der naive Zeichenstil unterstreicht nicht nur die Universalität der Liebesgeschichten, sondern bringt auch auf respektvolle Art und Weise die Komik zur Geltung, die dem Thema innewohnt. Komisch sind aber vor allem die Reaktionen besorgter Eltern, unwissender Gynäkologen und strenger Lehrer. Als Marie die Freundin ihres Bruders küsst, versteht ihre Mutter die Welt nicht mehr. Zur »Therapie« schickt sie Marie zu einer Familie aufs Land, wo sie Kühe melken muss. Dann findet Marie auf der neuen Schule eine Freundin, bei der sie übernachten darf. Als die Mutter davon erfährt, informiert sie den Schulleiter, dass ihre Tochter lesbisch ist, und schleppt Marie zum Frauenarzt. »Also wirklich, Madame!« sagt der Arzt mit Fuchsgesicht und Schnurrbart. Marie wird zu ihrer Schwester nach Montreal geschickt. In vielen Geschichten gibt es ein ­Happy End, in der Erzählung von Marie allerdings nicht. Sie endet traurig-melancholisch.

Diane Obomsawin erzählt auf so herzerwärmende Weise von der ersten Liebe, dass man von ihren Bildgeschichten nicht genug bekommen kann. Ihre Zeichnungen sind undramatisch und dennoch voller zarter Emotionen. Wie die Adoleszenz selbst, sind die Geschichten verwirrend und stecken voller unendlicher Möglichkeiten. Obomsawin überlässt es dem Publikum, die Biographien von Marie und ihren Freundinnen weiterzuspinnen. Wie sagte es das Mädchen, das beim Dreier aus dem Bett fiel? »Es leben die Frauen!«

Diane Obomsawin: Ich begehre Frauen. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2020, 80 Seiten, 24 Euro