Die Situation der Obdachlosen in der Pandemie

Der Winter wird gefährlich

Die Covid-19-Pandemie hat Wohnungslose hart getroffen. Im Frühjahr wurden Versorgungsangebote eingestellt, noch immer funktioniert die Wohnungslosenhilfe nur sehr eingeschränkt. Der Winter droht für viele lebensgefährlich zu werden. Von (Text) und Sebastian Sellhorst (Fotos)
Reportage Von

Viel Geld ist heute noch nicht in Marcs Becher gelandet. »Normalerweise hab ich um die Zeit schon zehn, 15 Euro gemacht«, sagt er. Es ist kurz nach Mittag, gerade hat die zweite Woche unter den Anfang November wieder verschärften Coronaregeln begonnen. Viel los ist nicht in der Dortmunder Fußgängerzone.

Marc sitzt ein bisschen abseits in ­einer Nebenstraße, neben einer der Innenstadtkirchen, da ist sein fester Platz. Er sitzt auf ein paar Pappdeckeln und einer mit Sachen ausgestopften Ikea-Tüte; der große Rucksack, mit Schlafsack und Isomatte kompakt verschnürt, steht neben ihm. Es sei hart, sagt er: »Die Leute machen einen Bogen um mich, als hätte sogar mein Becher Corona.«

Die Covid-19-Pandemie trifft Wohnungslose weltweit hart. Als das öffentliche Leben im März heruntergefahren wurde, hat das in Deutschland schätzungsweise 41 000 obdachlose Menschen mehr als ohnehin schon vom Nötigsten abgeschnitten; bundesweit kam die Wohnungslosenhilfe fast zum Erliegen. Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln bedeuteten und bedeuten, dass Frühstücksausgaben, Suppenküchen und Beratungsstellen nur noch im Notbetrieb funktionieren, während Mitarbeiter von Ämtern und Behörden im Homeoffice sind. Allenthalben sind die Türen von Orten geschlossen, die sonst Aufenthalt bieten und vor allem ein offenes Ohr und sozialen Kontakt.

»Die Stadt sagt, dass die Unter­künfte den Hygienestandards genügen. Das ist aber zu bezweifeln.« Jan Goering, Geschäftsführer Selbst­hilfe für Wohnungslose Hannover

Als alle zu Hause bleiben sollten, waren draußen nur noch die, die kein ­Zuhause haben. Und es fiel weg, was Wohnungs- und Obdachlose in normalen Zeiten über den Tag bringt, seien es Duschen in Einrichtungen oder Toiletten in Cafés, Kaufhäusern oder Bürgerbüros. Auch die Armutsökonomie brach zusammen: Betteln, Pfandflaschen sammeln, Straßenzeitungen verkaufen – das klappt nicht in einer leeren Stadt, in der niemand unterwegs ist, niemand tagsüber shoppen oder abends feiern geht.

Die Wohnungslosenhilfe schlug bereits früh Alarm. »Die Coronakrise bedeutet für wohnungslose Menschen eine dramatische Verschlechterung ihrer ohnehin bereits prekären Lebens­lage«, warnte die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe bereits im März, Sie forderte Sofortmaßnahmen wie die Ausweitung von ­Unterbringungsmöglichkeiten in leerstehenden Wohnungen oder Hotels und eine geringere Belegung von Unterkünften, aber auch eine grundlegende Notversorgung derer, die ohne jedes Obdach auf der Straße leben.

Notunterbringung im Naturfreundehaus
»Hier in Hannover waren die Unterstützungsleistungen während des ersten lockdown stark eingeschränkt. Vie­le Beratungen waren nur noch telefonisch erreichbar und teilweise mussten die Angebote schließen und konnten den Betroffenen bestenfalls nur noch Essen aus einer Fensterluke reichen«, erzählt Jan Goering. Er ist Geschäftsführer der Selbsthilfe für Wohnungslose (Sewo) in Hannover. Tagesaufenthaltsräume, in denen Wohnungslose Wäsche waschen, duschen, essen oder ihr Handy laden können, seien für viele nicht mehr so zugänglich wie zuvor. »Wir haben versucht, durchgehend zu öffnen, mussten den Aufenthalt aber auf eine Stunde beschränken.« Vor der Pandemie seien täglich bis zu 150 Menschen zur Sewo gekommen, jetzt fänden maximal 70 am Tag dort Platz. »Es ist für uns unmöglich, den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden.« Zu Beginn der ersten Welle der Pan­demie schuf die Stadt Hannover Notunterbringungsmöglichkeiten in Hotelzimmern und einer Jugendherberge, dann im Naturfreundehaus.

Auch in Hamburg kam die Wohnungslosenhilfe fast zum Erliegen. »Wir hatten Angst, Obdachlose anzustecken, die ja auf mehreren Ebenen Risikogruppe sind«, erzählt Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter und politischer Sprecher des Hamburger Straßenmagazins Hinz & Kunzt. Dort schloss die Geschäftsstelle, die Beratung lief telefonisch oder vor der Tür im Freien. Das Hamburger Winternotprogramm, das Ende März hätte enden sollen, lief weiter. Der Tabakkonzern Reemtsma spendete 300 000 Euro an die Wohnungslosenhilfe, um Obdachlose für einige Zeit in Hotelzimmern unterzubringen. Hinz & Kunzt konnte 50 Leute für drei Monate vermitteln. »Das lief super«, sagt Karrenbauer, den Untergebrachten sei es sehr schnell besser gegangen.

Auch in Dortmund stellten die Einrichtungen auf Notversorgung um, gaben Lunchpakete am Fenster aus und versorgten Menschen auf der Straße. Der Wärmebus fuhr im Frühjahr und Sommer weiter und verteilte weiter Mahlzeiten an Bedürftige. Auf öffentlichen Druck hin eröffneten NGOs im Verbund mit der Stadt in einer leerstehenden Immobilie ein temporäres Hygienezentrum mit Duschen, Sanitäranlagen und einer Kleiderkammer. Günni ist an fast jedem Öffnungstag hier. Er war schon einmal obdachlos, seit ein paar Monaten lebt er wieder auf der Straße. Er schläft mit einem Kumpel etwas außerhalb der Innenstadt. Schlafsäcke, Isomatten und ein Zelt haben sie von hier bekommen. Das hilft, vor allem jetzt, wo es kälter wird.

Die Stimmung sei schlecht, erzählen viele, auch Günni. Denn obdachlos zu sein, heißt auch, dass man seit acht Monaten ständig Schlange stehen muss – ob man nun duschen oder etwas zu essen holen will. Die psychische Belastung wächst, die Konkurrenz auch. In den Schlangen stehen nicht mehr nur die klassischen Bedürftigen, sondern auch die neuen Armen, die vor der Krise irgendwie über die Runden kamen, mittlerweile aber durch Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit in finanzielle Not geraten sind. »Ich kann mir nicht vorstellen, in der City zu schlafen, da bist du ungeschützt«, sagt Günni. Er hat von Überfällen gehört und von Diebstählen. Marc macht mit vier anderen Platte, um die Ecke liegt alle paar Meter ein zusammengerolltes Bündel mit Decken, Schlafsäcken, Isomatten. Er sagt: »Das muss so, auch wenn wir uns zweimal am Tag in den Haaren haben.«

Die Pandemie schlägt auf die Psyche
Die Pandemie hat Wohnungslosen in den vergangenen Monaten physisch wie psychisch stark zugesetzt. »Wir sehen einen starken Verelendungsprozess«, sagt Karrenbauer. »Die Angebote sind ja auch ein Stück weit zu Hause, der Wegfall beschleunigt die Verelendung.« Seit Mai sind in Hamburg acht Obdachlose auf der Straße gestorben, in Hannover waren es zwei binnen weniger Wochen. »Es geht mächtig auf die Psyche«, sagt Marc. Er trinkt jetzt auch wieder mehr, sagt er. »Ich muss das verdrängen.«

Eine Ordnungspolitik, die gesellschaftliche Randgruppen verdrängt und beim Infektionsschutz die Obdachlosigkeit vergessen zu haben scheint, verschlechtert die Situation der Wohnungslosen zusätzlich. Bereits 2018 gerieten Dortmund und Frankfurt am Main bundesweit in die Schlagzeilen, nachdem Behörden dort obdachlose Menschen mit kostenpflichtigen Verwarnungen wegen »Lagerns und Campierens« belegt hatten. Entsprechende Paragraphen gehören in vielen Städten und Gemeinden zu den Verordnungen, die die öffentliche Sicherheit und Gefahrenabwehr regeln. Mit diesen Paragraphen werden fast ausschließlich Obdachlose sanktioniert. Erst nach starkem öffentlichen Druck setzte Dortmund damals diese Praxis aus.

Im April und Mai wurden in Dortmund mehrere Wohnungslose mit Bußgeldern belegt, weil sie gegen das Verbot der »Zusammenkunft oder Ansammlung im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen« der damals geltenden Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen verstoßen hatten. Die zu zahlende Summe betrug inklusive Gebühr und Auslagen 228,50 Euro. In Einzelfällen summierten sich Bußgelder auf 2 300 Euro. In manchen Bescheiden war von Wiederholung und Vorsatz zu lesen. Mehrere Betroffene berichteten jedoch, bei offensichtlichen Zufallsbegegnungen sanktioniert worden zu sein, etwa als sie zu zweit jemanden trafen oder ein Dritter nach Feuer fragte.

Für Wohnungslose sind solche Summen nicht bezahlbar. Zahlen sie nicht, erhöht sich die Strafe, wird ein Einspruch abgelehnt, wird aus der Ordnungswidrigkeit eine Strafsache. Im schlimmsten Fall droht eine Ersatzfreiheitsstrafe, also Gefängnis. Nach Wochen kündigte die Stadt an, zumindest Menschen, die nachweislich wohnungslos sind, künftig nicht mehr sanktionieren zu wollen.

»Das Ordnungsamt übertreibt«, findet Günni. »Die Obdachlosen haben doch nur sich selber. Ist doch logisch, dass die zusammen abhängen. Wie soll das denn sonst gehen?« Auch andere Vergehen treffen vor allem Menschen ohne eigene Wohnung: »Wildpinkeln«, das Urinieren im öffentlichen Raum, kostet in Dortmund 50 Euro – sanktioniert werden deswegen wahrscheinlich seltener Fußballfans auf dem Weg zum Stadion als diejenigen, die ihre Notdurft nur draußen verrichten können. »Cafés lassen mich gar nicht mehr aufs Klo gehen«, sagt Marc, »Bäckereien machen manchmal ‚ne Ausnahme.« Weil in Dortmund im Sommer der Betreibervertrag für bezahlpflichtige »City-Toiletten« auslief, wurden in der Innenstadt mehrere Anlagen abgerissen. »Jetzt kann ich da auch nicht mehr gehen.«

Essen im beheizten Großzelt
Nun steht der erste Winter in der Pandemie vor der Tür – und trifft Menschen, die seit Monaten enormen Belastungen ausgesetzt sind und sich oft in einem deutlich schlechteren physischen und psychischen Zustand befinden als vor der Krise. »Es müssen sofort wieder zusätzliche Hotel- und Pensionszimmer, Jugendherbergen, eventuell auch leerstehende Ferienwohnungen angemietet werden, um eine Belegung unter Wahrung der Abstandsregeln zu ermöglichen. Bund und Länder sollten dafür unbürokratisch zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung stellen«, forderte Werena Rosenke, die Geschäftsführerin der BAG Wohnungslosenhilfe, Ende Oktober. Auch die Wohnungslosenhilfe muss wieder neu planen und die Notlösungen im Freien, die im Sommer gefunden wurden, winterfest machen und dort auch Infektionen vorbeugen.

In Dortmund gibt es, obwohl seit Jahren gefordert, kein städtisches Winternotprogramm. Vereine und ehrenamtliche Gruppen haben unter Nutzung städtischer Infrastruktur und mit Zuschüssen der Kommune eine Winternothilfe organisiert, um Wohnungslosen und Bedürftigen wenigstens zu ermöglichen, im Trockenen und im Sitzen zu essen. Zweimal täglich soll es eine Mahlzeit im beheizten Großzelt für bis zu 70 Menschen gleichzeitig geben. Die Vereine gehen von einer dreistelligen Nutzerzahl aus. Der Tagesaufenthalt der Diakonie mit 20 Plätzen hat wieder geöffnet, auch bis in den Abend hinein. Zusätzliche Aufenthaltsangebote oder Übernachtungsplätze gibt es bisher nicht.

Hannover beendete die Notunterbringung im Naturfreundehaus im ­Oktober, genau vor Beginn der kalten Jahreszeit. Als Alternative zur Straße gibt es nun wieder Sammelunterkünfte, Mehrbettzimmer oder Schlafsäle. Dabei sind beengte räumliche und sanitäre Bedingungen nicht erst ein Problem, seit Sars-CoV-2 sich verbreitet. In der Pandemie werden solche Sammelunterkünfte zum Infektionsherd, für Werkvertragsarbeiter in der Fleischindustrie und anderen Branchen ebenso wie für Wohnungslose und Geflüchtete.

»Die Obdachlosen haben doch nur sich selber. Ist doch logisch, dass die zusammen abhängen.« Günni, Wohnungsloser

»Die Stadt sagt, dass die Unter­künfte den Hygienestandards genügen«, erzählt Jan Goering von der Sewo. »Das ist aber zu bezweifeln. Das zuständige Gesundheitsamt hat sie sich gar nicht angesehen.« Einem Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung zufolge empfiehlt das regionale Gesundheitsamt explizit Einzelunterbringung. »Das ist es, was aktuell hilft und was wir auch weiter fordern ­werden«, sagt Goering. In Hannover übernähmen das Sozialamt oder das Jobcenter die Kosten der Unterbringung, wenn die Stadt die Betroffenen in Hotelzimmern unterbringe. Das lehnt die Stadt ab und verweist auf die Zumutbarkeit der vorhandenen Unterkünfte. Goering sagt: »Wir brauchen dringend weitere Angebote, und die Hotels stehen leer. Warum kann man da nichts machen? Wir hätten alle Bausteine da, nur die Stadt sagt nein.«

In Hamburg hat am 1.November wieder das Winternotprogramm begonnen, in drei Unterkünften stehen insgesamt 900 Schlafplätze zur Verfügung. Ein Fehler, findet Stephan Karren­bauer von Hinz & Kunzt: »Es ist fahrlässig, Menschen in Zwei- bis Dreibettzimmern schlafen zu lassen, wo vielleicht noch einer hustet.« Die Stadt, meint der Sozialarbeiter, hätte die Pandemiezeit nutzen können, um die Unterbringung anders zu organisieren, stattdessen stelle sie weiterhin nur Sammelunterkünfte zur Verfügung. »Warum soll man Obdachlosen etwas anbieten, was ich selbst nicht machen würde? Mit fremden Leuten in einem Zimmer zu schlafen, über Monate, über Jahre, das geht gar nicht.« Dass die Stadt so tue, als sei dieser Winter nicht anders als der vergangene, ärgert ihn. »Die Stadt kann noch so oft sagen, dass sie das größte Programm hat. Wenn so viele Menschen sterben wie bei uns dieses Jahr, kann etwas nicht stimmen.«

Der FC St. Pauli hat bereits einen Raum auf der Gegengeraden seines ­Stadions für rumänische Obdachlose geöffnet – eine Gruppe, die häufig keine staatlichen Hilfen erhält, weil sie aus der kommunalen Unterbringungspflicht ausgeschlossen wird. Nun ruft der Verein Fans zu Spenden auf, um den Obdachlosen Hotelzimmer vermitteln zu können.

Günni und sein Kumpel haben sich für den Winter ein Überzelt besorgt und Styroporplatten im Baumarkt gekauft, die sie gegen die Kälte unter ihr Zelt geschoben haben. Auch Marc wird den Winter wohl draußen verbringen. Sein Therapiebeginn, erzählt er, verschiebe sich wegen der Pandemie immer weiter nach hinten. Es wird ein gefährlicher Winter. Die Krise hat gezeigt, wo der Staat handeln müsste, um Wohnungslose zu schützen. Dass er das tun wird, ist nicht zu erwarten.
Die Autorin ist Redakteurin beim Straßen­magazin bodo aus Dortmund.

 

Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren in Deutschland 2018 rund 678 000 Menschen wohnungslos. Etwa ein Viertel davon waren Frauen. Die Statistik erfasst auch rund 440 000 Geflüchtete, die nach der Anerkennung ihres Asylantrags weiter ordnungsrechtlich untergebracht sind, weil sie sich auf dem Wohnungsmarkt nicht selbst mit Wohnraum versorgen können. Etwa 41 000 Menschen lebten ohne jede Unterkunft auf der Straße. Lediglich Nordrhein-Westfalen führt eine jährliche Statistik über Wohnungsnotfälle, die jedoch nur das sogenannte Hellfeld erfasst, also die als wohnungslos registrierten Menschen. 2022 soll nach nordrhein-westfälischem Modell erstmals eine bundesweite Wohnungslosenstatistik erhoben werden.