Die Oppositionsbewegungen in Thailand, Hongkong und Taiwan vernetzen sich

Milchtee mit Nachgeschmack

Unter dem Hashtag #MilkTeaAlliance organisiert sich eine überregionale Demokratiebewegung in Hongkong, Taiwan und Thailand. Doch die staatliche Repression gegen die Proteste nimmt zu.

Das Parlamentsgebäude in Bangkok glich am Dienstag vergangener Woche einer Festung. Barrieren aus Beton und Stacheldraht hielten Tausende Protestierende auf Distanz. Am Nachmittag kam es zu gewaltsamen Zusammen­stößen zwischen Demonstrierenden des demokratischen Lagers, Ordnungskräften und Anhängern des Königs. Die Polizei setzte zunächst Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Pro­teste zurückzudrängen, zog sich später jedoch zurück und ließ die Straßenkämpfe zwischen in Gelb gekleideten Monarchisten und Demonstrierenden eskalieren.

Die traurige Bilanz: 55 Protestierende benötigten medizinische Behandlung, sechs von ihnen hatten Schussverletzungen. Es waren die schwersten Auseinandersetzungen seit dem erneuten Aufflammen der regierungskritischen Proteste im Juli. Trotz aller staatlichen Repression wurden sie auch am folgenden Mittwoch weitergeführt. Die Demonstrantinnen und Demonst­ranten fordern den Rücktritt des Regierungschefs Prayut Chan-o-cha, eine Reform der Monarchie und eine neue, demokratische Verfassung (Protestieren und Tee trinken). Auslöser der Proteste war die Auflösung der regierungskritischen Partei Future Forward (FFP) im Februar.

Aufblasbare Gummienten dienten den Demonstrierenden in Bangkok Dienstag vergangener Woche als Ganzkörperschutz gegen die Wasserwerfer der Polizei, die auch Tränengas einsetzte.

Die Demonstrationen in Bangkok und anderen Städten Thailands erinnern in ihrer Symbolik und den angewandten Taktiken (Mit Harry Potter gegen Militär und König) stark an die Hongkonger »Regenschirmbewegung« des Jahres 2014 und die großen Proteste sowohl gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz als auch gegen das Anfang Juli eingeführte sogenannte Nationale Sicherheitsgesetz.

Ähnlich wie schon in Hongkong werden die Proteste in Thailand dezentral über Internetforen und Telegram-Kanäle organisiert und koordiniert. Es gibt zum Beispiel viele kleine Flashmobs, bei denen sich die Demonstrierenden ebenso schnell versammeln wie sie wieder in der Anonymität der Menschenmenge verschwinden. Auch verschiedene Formen des Schutzes vor ­Polizeigewalt, wie die Verwendung von Regenschirmen, Bauhelmen, Gas­masken und Sicherheitsbrillen und die Versorgung der vorderen Reihen der Protestierenden durch eine Art Staffellauf, bei dem benötigte Materialien weitergereicht werden, konnte man bereits in Hongkong beobachten.

Im Gespräch mit der BBC erzählte Joshua Wong, der bekannteste Aktivist der Regenschirmbewegung, von den emotionalen Reaktionen, die die Proteste in Thailand bei seinen Mitstreitern hervorgerufen hätten. »Unsere ­Situation in Hongkong ist sehr ähnlich und dank Twitter wissen wir, dass wir nicht alleine sind. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum die Hongkonger sich so dafür interessieren, was gerade in Thailand passiert«, so Wong. Am Montag bekannte er sich vor ­Gericht schuldig, im Juni 2019 eine nicht genehmigte Demonstration ­organisiert zu haben. Bis zur Urteilsverkündung am kommenden Mittwoch wurden er, Agnes Chow und Ivan Lam in Haft genommen. Ihnen drohen Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren.

Ähnlichkeiten zwischen den Protestbewegungen fallen ins Auge. Aufblasbare Gummienten dienten den Demonstrierenden in Bangkok Dienstag vergangener Woche als Ganzkörperschutz gegen die Wasserwerfer der Polizei, die auch Tränengas einsetzte. Mittlerweile sind die Enten zu einem Symbol des Widerstands geworden. In Memes und Karikaturen werden sie als muskulöse Superhelden dargestellt. Hongkonger Twitter-Nutzer wiesen darauf hin, dass Gummienten auch in Hongkong zum Einsatz gekommen ­waren—zwar nicht als Schutzschilde, aber dafür als sanfte Wurfgeschosse gegen die Polizei. Joshua Wong feuerte die Demonstrierenden in Thailand an: »Kreativität siegt. Lang lebe die Gummiente.«

Hongkong und Thailand sind aber nicht nur durch ähnliche Protestformen verbunden. Seit April hat sich über verschiedene Social-Media-Kanäle ein loses, transnationales Netzwerk mit dem Namen »Milk Tea Alliance« gebildet, dem auch Aktivisten aus Taiwan angehören. Vor allem online hat sich ein gemeinsames Selbstverständnis entwickelt: Zusammen streitet man für Demokratie und gegen das Erstarken autoritärer Kräfte in Ostasien. Dies wiederum gehe auf den wachsenden Einfluss der Volksrepublik China in der Region zurück, vermuten viele der ­Engagierten. Der Name der Bewegung bezieht sich auf den in Thailand, Hongkong und Taiwan verbreiteten Konsum von Tee mit Milch – während man diesen in weiten Teilen Chinas traditionell ohne Milch trinkt.

Seit einem Staatsstreich im Jahr 2014 bestimmt die ­Armee die Politik in Thailand, die demokratische Opposition wird weitest­gehend unterdrückt. Als Reaktion auf Kritik aus dem Westen machte sich Thailands Regierung verstärkt von der Volksrepublik China abhängig. So beteiligt sie sich neben mehr als 60 weiteren Staaten an dem wirtschafts- und geopolitischen Megaprojekt »Neue Seidenstraße«, mit dem die chinesische Regierung von ihr kontrollierte Handelsverbindungen zwischen Asien, Afrika und Europa schaffen will (Thema Jungle World 16/2017).

Demonstration in Taipeh

Solidarität nicht nur im Netz: Demonstration in Taipeh für die Freilassung von zwölf Hongkongern im Oktober 

Bild:
Reuters / Ann Wang

In Hongkong kämpfen die Menschen derweil für den Erhalt der bürgerlichen Freiheiten, die ihnen unter der Formel »Ein Land, zwei Systeme« garantiert wurden, als Großbritannien die ehemalige Kronkolonie 1997 an die Volks­republik China übergab. Im Jahr 2013 brach die chinesische Zentralregierung ihr Versprechen, 2017 freie und gleiche Wahlen zuzulassen. Auf die ­Forderungen der Hongkonger Bevölkerung nach mehr Demokratie reagierte sie mit immer härteren Repressalien, kulminierend im dieses Jahr erlassenen Nationalen Sicherheitsgesetz.

Das demokratische Taiwan wehrt sich unter dem Eindruck dieser Entwicklung umso entschlossener gegen den Versuch Chinas, mit militärischem Druck, engeren Handels- und Geschäftskontakten sowie einer Beeinflussung lokaler Medien eine Wiedervereinigung der beiden Staaten herbeizuführen.

Alles begann mit einem Tweet. Im April hatte der thailändische Schauspieler Vachirawit Chiva-aree auf Twitter einen Beitrag eines Fotografen geteilt, in dem dieser die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong fälsch­licherweise als eigenständigen Staat bezeichnete. Chinesische Nationalisten begannen, die Accounts des Schauspielers und seiner Partnerin, des Models Weeraya Sukaram, nach »antichinesischen« Inhalten zu durchforsten. Sie stießen auf einen vermeintlich »protaiwanischen« Kommentar und eine Äußerung auf Twitter, in der Weeraya Zweifel an der offiziellen chinesischen Erklärung der Herkunft von Sars-CoV-2 geäußert hatte. Es folgte ein tagelanger Schlagabtausch zwischen chinesischen und thailändischen Social-Media-Nutzern.

Die auch als »Little Pinks« bekannten nationalistischen Internet-Trolle aus China versuchten, Thais mit Angriffen auf deren Regierung und das Königshaus zu beleidigen. Diese Angriffe liefen jedoch ins Leere, da die Mehrheit der thailändischen Twitter-Nutzer eher regierungskritisch eingestellt ist. Da offene Kritik am König in Thailand verboten ist, begrüßten sie die Angriffe aus China. Im Gegensatz dazu wusste man in Thailand ganz genau, welche Themen die Trolle aus der Volksrepublik empfindlich treffen würden: der Status Taiwans, die Proteste in Hongkong, der Umgang mit der Covid-19-­Pandemie, das Tiananmen-Massaker 1989 und die Internetzensur – um nur einige zu nennen.

Die Schlacht in den Kommentarspalten erreichte schließlich ein Ausmaß, das sowohl die chinesischen als auch die thailändischen Behörden auf den Plan rief. Das thailändische Tourismusbüro und die chinesische Botschaft in Bangkok riefen die Beteiligten zur »Vernunft« und beschworen das »Ein-­China-Prinzip«, also die vermeintliche Zugehörigkeit Taiwans zum Staats­gebiet der Volksrepublik China. Es war diese Einmischung von staatlicher Seite, die dem Konflikt in den Augen vieler Nutzer eine neue Qualität ­verlieh.

Als Mitte April eine Graphik der Hongkonger Facebook-Seite Milkteaology viral ging, auf der in Anspielung auf das in Thailand, Hongkong und Taiwan gleichermaßen populäre ­Getränk Gläser mit Milchtee erhoben werden, war die Milk Tea Alliance ­offiziell geboren. Sie hat sich seither als wichtige digitale Schnittstelle für die politische Mobilisierung junger Menschen in der Region erwiesen.

Unter dem Hashtag #StopMekongDam beteiligte sich die Allianz an ­einer Unterschriftenkampagne gegen den Bau von Staudämmen am Oberlauf des Mekong in China, die, so meinen Kritiker, den Trinkwasserzugang von 60 Millionen Menschen in Südostasien gefährden. Als Reaktion auf den exzessiven Einsatz von chemischen Reizstoffen bei der Unterdrückung der Proteste vorige Woche in Bangkok rief Joshua Wong die Milk Tea Alliance außerdem dazu auf, die US-amerikanische Firma Nonlethal Technologies, die sowohl die Hongkonger als auch die thailändische Polizei mit Tränengas beliefert, mit einer E-Mail-Kampagne zu einem Verkaufsstopp zu bewegen.

Während die Allianz in Thailand und Hongkong bisher hauptsächlich online agiert, gibt es in Taiwan bereits die ersten »analogen« Proteste unter dem Milk-Tea-Banner. Die thailändische Demokratin Thachaporn Supparatanapinyo studiert in Taipeh und ist die Sprecherin der Taiwan Alliance for Thai Democracy. Im Gespräch mit der Jungle World erzählt sie: »Am Anfang glaubte niemand daran, dass die Milk Tea Alliance wirklich konkret oder stark genug werden würde, um irgendetwas zu bewirken. Aber als Aktivisten, die im Ausland demonstrieren, können wir zeigen, dass die Online-Solidarität auch wirklich echt ist. Egal welcher Nationalität man angehört, jeder kann sich über Ländergrenzen hinweg, unabhängig von den politischen Agenden unserer Regierungen mit dieser Bewegung identifizieren.«

Kontakte zwischen den politischen Bewegungen Ost- und Südostasiens gab es schon früher. Durch die gemeinsame Schriftsprache ist der Austausch zwischen Hongkong und Taiwan schon seit Jahrzehnten sehr rege. Der taiwanische Aktivist und Mitgründer der Organisation Hongkong Outlanders, Chiang Min-yen, erzählt im Gespräch mit der Jungle World von einer Tradition des gegenseitigen Nacheiferns und Wettbewerbs: »Als ich bei der Regenschirmbewegung vor Ort mit dabei war, wurde ich ständig gefragt, wie wir das denn damals bei der Sonnenblumenbewegung in Taiwan gemacht hätten.« Im Jahr 2014 hatten Studierende und Sympathisanten in Taiwan das Parlament besetzt und erfolgreich gegen ein Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China protestiert. Man hatte befürchtet, dass mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit auch der politische Einfluss Chinas größer würde.

Während die Allianz in Thailand und Hongkong bisher hauptsächlich online agiert, gibt es in Taiwan bereits die ersten »analogen« Proteste unter dem Milk-Tea-Banner.

Vor dem Sturm auf das Hongkonger Parlament am 1. Juli 2019, dem 22. Jahrestag der Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China, mit dem die Demonstranten das geplante Auslieferungsgesetz aufhalten wollten, beriefen sich viele Teilnehmer in internen Diskussionen auf das Beispiel Taiwans. »Die Werke taiwanischer Autoren und Bücher über die Geschichte der taiwanischen Demokratiebewegung gehören zur Standardlektüre vieler junger Hongkonger«, sagt Chiang. Die Verbindung nach Thailand sei hingegen relativ neu und beruhe vor allem auf Kontakten zwischen einzelnen Vertretern der Proteste.

Die Milk Tea Alliance hat auch eine außenpolitische Dimension. Bereits im April hatte Taiwans Regierung sich positiv auf die Allianz bezogen, um sich auch medial gegen die Volksrepublik zu behaupten. In einem Facebook-Post des Außenministeriums, das eine Spende von Infektionsschutzmasken nach Thailand ankündigte, stand neben dem Slogan »Taiwan Can Help« auch das Hashtag #MilkTeaAlliance. Taiwans Regierung bezog jedoch zur politischen Lage in Thailand keine Stellung.

Kuo Chia-yo ist die Gründerin des Digital Diplomacy Lab, einer NGO in Taipeh, die versucht, Taiwans diplomatische Isolation durch Online-Kampagnen zu durchbrechen. Sie erklärt die Zurückhaltung des Außenministeriums mit Taiwans schwierigem internationalen Status: »Taiwan kann es sich nicht leisten, andere Staaten zu verärgern«, so Kuo im Gespräch mit der Jungle World. Die Milk Tea Alliance erzeuge in anderen Ländern Aufmerksamkeit für die Bedrohung von Taiwans Unabhängigkeit durch die Volksrepublik China.

Als im Mai der chinesisch-indische Grenzkonflikt im Himalaja zu eskalieren drohte und die antichinesische Stimmung in Indien einen Höhepunkt erreichte, berichteten indische Medien vermehrt positiv über Taiwan. Es gab zahlreiche Beiträge über den erfolgreichen Kampf der Inselrepublik gegen die Covid-19-Pandemie und die immer häufiger werdenden Flüge chinesischer Kampfflugzeuge über die nicht nach internationalem Recht anerkannte, aber von beiden Ländern weitgehend respektierte Medianlinie der Taiwan-Straße (Nationale Sicherheit heißt Repression).

Als Antwort auf die Kritik indischer Internetnutzer an Chinas Gebaren in der Grenzregion verbreitete das Team des Digital Diplomacy Lab online eine Graphik, die Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen und Indiens Premierminister Narendra Modi zeigt, wie sie gemeinsam Milchtee trinken. »Uns fiel auf, wie viele indische Internetnutzer offen den Wunsch äußerten, auch zur Allianz zu stoßen. Das haben wir als Chance begriffen«, sagt Kuo. Das Bild sei mehr als 7 000 Mal von indischen Internetnutzern geteilt und von mehreren internationalen Medien aufgegriffen worden – ein großer Erfolg für die noch junge NGO.

Am Samstag vorvergangener Woche organisierte das Außenministerium in Taipeh dann erstmals eine Veranstaltung anlässlich des hinduistischen Lichtfestes Diwali. Das soll dazu beitragen, die Beziehungen mit Indien zu intensivieren und Taiwan weiter von Chinas Einfluss zu emanzipieren. Kuo stellt allerdings klar, dass es einen Unterschied zwischen den Bemühungen der Regierung und denen der Zivilgesellschaft gebe: »Wenn Taiwans Regierung die Beziehungen zur indischen Regierung verbessern möchte, dann ist das Sache der Regierung. Die Milk Tea Alliance ist aber eine demokratische Allianz der Zivilgesellschaften.« Was ursprünglich als chinakritische Onlinekampagne begann, habe sich mittlerweile zu einer breiten Bewegung für Demokratie weiterentwickelt, so Kuo.

Der chinesischen Regierung sind die transnationalen Solidaritätsbekundungen der Allianz erwartungsgemäß ein Dorn im Auge. Der Sprecher des Außenministeriums versuchte, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, bereits Mitte August, die Bedeutung der neuen Bewegung herunterzuspielen: »Dass Personen, die die Unabhängigkeit Hongkongs oder Taiwans unterstützen, sich häufig über das Internet vernetzen, ist nichts Neues, aber ihr Komplott wird niemals erfolgreich sein.«

Sowohl die chinesische als auch die thailändische Regierung versuchen mittels Ein- und Ausreiseverboten, die Vernetzung von Demokratieaktivisten so weit wie möglich einzuschränken. Schon im Oktober 2016 war Joshua Wong an der Einreise nach Thailand gehindert und zwölf Stunden lang am Flughafen in Bangkok festgehalten worden. Chiang Min-yen, der in Hongkong studierte und rege Kontakte in die Sonderverwaltungszone pflegt, sagt, dass er es nicht mehr versucht habe, nach Hongkong einzureisen, nachdem seine privaten Informationen vergangenes Jahr auf der Website »Hong Kong Leaks« veröffentlicht wurden. Für viele Aktivisten aus der Region bleiben nur Taiwan oder ein Drittstaat als mögliche Orte analoger Kooperation.

Am Ende des Gesprächs mit der Jungle World weist Thachaporn Supparatanapinyo auf die Bedeutung hin, die Taiwan als eines der demokratischsten Länder in Asien für transnationale Solidaritätsbemühungen besitzt: »Wir haben das Privileg, hier zu leben und gefahrlos alles sagen zu können, was wir wollen. Wenn wir dieses Privileg und diesen Raum nicht nutzen, dann kommen wir unserer Verantwortung als Bürger Thailands nicht nach, unsere Landsleute in Thailand zu unterstützen.« Sie und ihre Mitstreiter planen schon den nächsten Protest.