Im Gespräch mit der Politologin Janjira Somabarpoonsiri über Autoritarismus in Südostasien

»Thailand ist ein zutiefst zerrissenes Land«

Der Demokratiebewegung in Thailand geht es um weit mehr als eine Verfassungsänderung.
Interview Von

Regierungskritische Proteste in Thailand eskalierten vorige Woche. Warum?

Die Protestierenden verlangen eine Änderung der derzeitigen äußerst antidemokratischen Verfassung. Aber dieser Konflikt ist nur die Oberfläche. Es gibt viel tiefere Konflikte in der thailändischen Gesellschaft. Diese ziehen sich schon mehr als ein Jahrzehnt hin.

Die Proteste scheinen vor allem von Schülerinnen, Schülern und Studierenden getragen zu sein. Was ist deren Anliegen?

Diese Generation wuchs in einer Zeit auf, in der es in Thailand zwei Militärputsche gab und anschließend vom Militär bestimmte Regierungen. Seit dem jüngsten Militärputsch wurde das gesellschaftliche Klima immer autoritärer. Das erlebten die jungen Menschen bereits in der Schule. Dort erleben Thais Prügel und sexuelle Gewalt – auch gegen dieses autoritäre Klima richten sich die Proteste.

»An der Schule erleben Thais Prügel und sexuelle Gewalt – auch gegen dieses autoritäre Klima richten sich die Proteste.«

Vor zehn Jahren gab es bereits eine soziale Bewegung gegen die vom Militär eingesetzte Regierung – die sogenannten Rothemden. Gibt es die noch?

Ja, von ihnen beteiligen sich einige an den Protesten. 2010 ließ das Militär die Proteste gewaltsam niederschlagen. Keiner der dafür verantwortlichen Armeeangehörigen musste sich dafür je verantworten.

Was steht hinter der Forderung nach einer Verfassungsänderung?

Die entscheidende Frage ist hierzulande, ob man für oder gegen Demokratie ist. Der Monarchismus ist in Thailand eine hegemoniale Ideologie. Demnach sind die Thais eine Einheit und der König ist die einheitsstiftende Kraft. Es lässt sich beobachten, wie sich diese Ideologie langsam abnutzt. Für Monarchisten ist es völlig inakzeptabel, die Herrschaft des Königs in Frage zu stellen oder gar eine andere Regierungsform anzustreben.

Die Demokratiebewegungen in Thailand bezieht sich stark auf die Proteste, die im vorigen Jahr in Hongkong stattfanden. Was verbindet diese Bewegungen abgesehen von gemeinsamen Memes?

Was sich vor allem in den sozialen Medien manifestiert, ist symbolischer Natur. Wenn man von Hongkong ins restliche China guckt oder von Thailand auf die eigene autokratische Regierung, dann bemerkt man sofort Ähnlichkeiten: die harte Repression durch Polizei und Justiz, die Verhinderung freier Wahlen. Es gibt deshalb viel gegenseitige Sympathie, wenn es um das Leben unter autokratischen Bedingungen geht.

Aber geschieht noch etwas über die gemeinsame Symbolik hinaus?

Inzwischen wird eine etwas greifbarere Kooperation erkennbar – Proteste von Thais vor der chinesischen Botschaft als Reaktion auf die Repression gegen Demokratieaktivisten in Hongkong etwa. In Hongkong ist es derzeit nicht möglich zu demonstrieren. Dafür sammelte man dort online Spenden für die Proteste in Thailand.

Lernen die verschiedenen autokratischen Regierungen voneinander bei der Bekämpfung dieser Bewegungen, und gibt es diesbezüglich Kooperation?

Die autoritären Regimes imitieren einander. Man beobachtet, was funktioniert und was nicht. Ein gutes Beispiel in Südostasien ist die sogenannte digitale Repression: Es finden großangelegte Verhaftungswellen gegen jene statt, die staats- und regierungskritische Inhalte im Internet veröffentlichen. Das gab es nicht nur in Thailand, sondern auch in Kambodscha, Singapur, Malaysia, Indonesien und auf den Philippinen. In Vietnam setzt die Regierung ähnlich wie in Thailand sogenannte Cybertruppen ein, die Propaganda und Desinformation verbreiten.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung für die Proteste?

In Thailand und anderen Ländern Südostasiens drückt man Kritik an der Regierung häufig auf Twitter aus. Gerade die Verspottung des Regimes durch satirische Memes – das begann im Internet. Als sich die Proteste auf der Straße manifestierten, ließ sich auch ein Transfer der Meme-Kultur auf die Straße beobachten. Das konnte man etwa an den riesigen aufblasbaren gelben Gummienten sehen, die bei den Protesten in Bangkok vorige Woche auftauchten und die sich auf Memes beziehen. Kampagnen entstehen oft zunächst im Internet. Sie mobilisieren zu einem bestimmten Ort. Die Bilder, die davon gemacht werden, zirkulieren dann wieder im Internet und machen die Proteste international bekannt.

Sie erwähnten vorher Teile der Bevölkerung, die nach wie vor auf Seiten der Monarchie stehen. Ist die Gesellschaft Thailands ähnlich zerrissen und politisch polarisiert wie etwa die der USA und in Teilen Europas?

Thailand ist ein zutiefst zerrissenes Land. Es gibt zwei Lager in diesem ideologischen Kampf. Unter den Unterstützerinnen und Unterstützern der Monarchie gibt es Gruppierungen, die besonders extrem und auch gewalttätig sind, die sogenannten Gelbhemden. Neulich gelang es ihnen, bei einer der Demonstrationen die Absperrungen zwischen Polizei und demokratischen Demonstrierenden zu überwinden und diese anzugreifen. Es gab Vermutungen, die Polizei habe dies zugelassen oder gar dabei geholfen. Sechs demokratische Demonstrierende wurden bei dieser Auseinandersetzung mit scharfer Munition angeschossen. Die Gelbhemden bedrängen ihre politischen Gegner im Internet. Und sie denunzieren sie bei den Behörden.

Sehen Sie einen generellen Trend in Richtung Autoritarismus in der Region?

Südostasien ist generell nicht besonders demokratiefreundlich. Die neunziger Jahre waren die beste Zeit für demokratische Bewegungen in der Region. Es gab immerhin ein paar Demokratien wie Thailand, die Philippinen und Indonesien. Der Rest war eine Mischung aus Einparteienstaaten, Autokratien, Staaten mit stark kontrollierten Wahlen und Brunei mit seiner absoluten Monarchie. In den vergangenen fünf bis sechs Jahren ließ sich in den demokratischeren Ländern Südostasiens der Aufstieg neuer autoritärer »starker Männer« beobachten. In Thailand begann dieser Prozess früher. Weil es den demokratischen Regierungen nicht gelang, die verschiedenen sozialen Probleme und gesellschaftlichen Konflikte zu lösen, begannen Menschen, diese Probleme mit der Demokratie zu identifizieren.

Das klingt nicht so, als hätten die Demokratiebewegungen in Thailand oder Hongkong besonders gute Chancen.

Vor denen liegt noch ein langer Weg. Die Chancen, kurzfristig etwas zu erreichen, sind gering. Das Regime in Thailand denkt nicht daran, in der Frage der Verfassungsänderung einzulenken.


Janjira Sombatpoonsiri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute of Asian Studies der  Chulalongkorn-Universität in Bangkok. Sie forscht zu gewaltfreiem Widerstand, sozialen Bewegungen und zu nötigen Reformen bei Polizei und Justiz mit Schwerpunkt Thailand. Neuerdings beschäftigt sie sich auch mit digitaler Repression. Derzeit ist sie Gastforscherin in Taipeh, der Hauptstadt Taiwans.