Intensivversorgung in der Pandemie

Triage vor Gericht

Bodycheck – Kolumne zu Biopolitik und Alltag

Ob der »Wellenbrecher« des derzeitigen lockdown light die zweite Welle der Covid-19-Neuinfektionen tatsächlich brechen kann, ist noch nicht abzusehen. Klar ist, dass bei den Gesundheitsämtern schon lange Land unter ist und die Nachverfolgung der Infektions­ketten beinah flächendeckend nicht mehr funktioniert. Dass zudem die Krankenhäuser und Intensivstationen mit Erkrankten überschwemmt werden, steht zu befürchten.

Angesichts dessen warnen derzeit vor allem Menschen mit Behinderung wieder davor, dass es zur Triage kommen könnte – einer ­Situation, in der Ressourcen wie Intensivbetten und Beatmungs­geräte nicht mehr für alle Bedürftigen ausreichen und deshalb ­entschieden werden muss, wie sie verteilt werden. Die Befürchtung, dass dann Menschen mit Vorerkrankungen benachteiligt würden, hatte bereits im Frühjahr heftigen Protest gegen die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ausgelöst (Im Notfall schlecht sortiert). Ein wichtiges Kriterium für deren Triage-Leitlinien ist die Einschätzung, wessen Überlebenschancen die besten sind.

Menschen mit Behinderungen befürchten zu Recht, dass das medizinische Personal geradezu automatisch vermutet, dass sie eine geringere Überlebenschance hätten – vor allem Menschen mit schweren Behinderungen haben ihre prognostizierte Lebensdauer oft schon mehrfach überschritten. Über den Verlauf von Covid-19-Erkrankungen ist noch sehr viel unbekannt. Das gilt auch für die ­konkreten Faktoren, die bestimmen, wer Symptome entwickelt, wer einen schweren Verlauf hat, wer beatmet werden muss, wer daran stirbt und wer an schweren Nachwirkungen leiden wird. Im Idealfall führt dieses Unwissen zu sehr vorsichtigen Einschätzungen; in Stresssituationen, wie sie auf einer Corona-Intensivstation vorherrschen, ist das aber kaum zu erwarten.

Das ist in »klassischen« Triage-Situationen, in denen nach Augenschein und nicht nach einer längeren Untersuchung entschieden wird, auch nicht anders. Nach einem Großunfall beispielsweise muss das medizinische Personal die Verletzten danach sortieren, wer im Hubschrauber ins nächstgelegene Krankenhaus geflogen wird und für wen der Krankenwagen reichen muss – oder wem mit den begrenzten Mitteln sowieso nicht mehr zu helfen ist. Auch hierbei können Beeinträchtigungen oder Vorerkrankungen zu Fehleinschätzungen zum Nachteil einer behinderten Person führen. In der Pandemie droht allerdings eine Verstetigung dieser eigentlich unhalt­baren Situation.

Einige Menschen mit Behinderung haben deswegen, unterstützt von der Initiative Abilitywatch, Klage vor dem Bundesverfassungs­gericht eingereicht, um den Bundestag dazu zu bringen, ein Gesetz zur Triage zu verabschieden. Der Gesetzgeber dürfe diese wichtige Entscheidung nicht einzelnen Ärzten und Fachgesellschaften überlassen, so das Argument. Bis Mitte Dezember sollen unter anderem die Bundesregierung, die Länderregierungen und verschiedene andere Organisationen wie der Deutsche Ethikrat in dem Verfahren Stellung nehmen. Dort soll auch die Frage behandelt werden, ob das Ziel, mit einer Triage so viele Menschenleben zu retten wie möglich, unethisch ist und dem Grundgesetz widerspricht, weil bei einer solchen Nutzenmaximierung Menschenleben gegeneinander auf­gerechnet werden. Das Ziel der Kläger und Klägerinnen ist es, auch bei solchen Entscheidungen Chancengleichheit zur Grundlage zu machen, da die Würde des Menschen dies gebiete.

Absurde und grundrechtswidrige Kriterien für normal zu halten, kann bei der Thematik auch den Gutwilligsten passieren: Der Viro­loge Christian Drosten nutzte die drohende Triage bei einer Veranstaltung in Meppen (Niedersachsen) Anfang November, um die Notwendigkeit der neuerlichen Beschränkungen deutlich zu machen. In seinem Beispiel gab es einen älteren, an Covid-19 erkrankten ­Patienten auf der Intensivstation, der bereits beatmet nur eine Überlebenschance von 30 bis 50 Prozent habe. Dann würde ein neuer Patient eingeliefert mit einem schweren Verlauf, der aber erst 35 Jahre alt und Vater von drei kleinen Kindern sei. Ein weiteres Beatmungsgerät stünde nicht zur Verfügung, daher »müsse« man »einen der älteren Patienten abmachen«, so Drosten.

Als Warnung sind solche drastischen Erzählungen offensichtlich gut gemeint. Schließlich hat der Virologe seit dem Frühling unzäh­lige Male vor der zweiten Welle und ihren Auswirkungen gewarnt. Immer neue Drehs für das altbekannte »Bleibt zu Hause und haltet Abstand, sonst … !« zu finden, ist ja auch nicht einfach. Allerdings sollte, was nach »sonst …« kommt, halbwegs stimmen und keine übertriebene Skandalisierung sein. Es widerspricht jeder ärztlichen Ethik und auch dem Gesetz, Menschen von lebenserhaltenden Maschinen »abzumachen«, solange sie diese noch brauchen. Das wäre eine Tötung, die, selbst wenn der Patient sterben wollte, in Deutschland nicht einfach so erlaubt wäre – geschweige denn, wenn er leben will. Der Präsident der DIVI, Uwe Janssens, hat immer wieder betont, dass auch bei Verteilungsengpässen niemandem ein lebenserhaltendes Gerät wieder weggenommen werden dürfe. Zudem können solche Schilderungen kontraproduktiv sein, da sie eher Älteren und Menschen mit vielen Risikofaktoren Angst machen, die sich in der Regel sowieso schon vorsichtig verhalten. Einem rücksichtslosen mittelalten Familienvater ohne Vorerkrankung wird hingegen in Aussicht gestellt, dass er im Ernstfall die Maschine bekäme. Solidarität mit besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen wird so eher nicht erzeugt.