Ein Gespräch mit Carlos Fernando Chamorro über die Unterdrückung von Medien in Nicaragua

»Wir werden als Terroristen diffamiert«

In der Coronakrise wächst der Druck auf Journalistinnen und Journalisten in Nicaragua. Die Regierung verschleiert das Ausmaß der Pandemie und geht gegen kritische Medien vor.
Interview Von

Zwei Gesetze bedrohen die Existenz kritischer Medien in Nicaragua. Am 15. Oktober verabschiedete das nicaraguanische Parlament ein Gesetz zur Regulierung »ausländischer Agenten«, am 27. Oktober folgte ein Gesetz gegen Internetkriminalität. Was ist dessen Intention?

Eigentlich ist das eine Frage, die besser die Autoren der Gesetzes und die Parlamentarier beantworten sollten, aber ich will es versuchen. In Nicaragua lebt die Bevölkerung seit über zwei Jahren in einer Situation der Unterdrückung, de facto der Aufhebung ihrer Grundrechte. Das Gesetz gegen Internetkriminalität hat aus meiner Sicht die Aufgabe, Zensur zu institutionalisieren, obwohl es auf den ersten Blick das Motiv verfolgt, die Freiheit im Internet zu sichern und die neuen Informationstechnologien zu regulieren. Allerdings definiert das Gesetz neue Straftatbestände, unter anderem das in Umlauf Bringen von Falschinformationen. Das wird mit Freiheitsstrafen von ein bis fünf Jahren geahndet.

»Die Regierung verletzt das Grundrecht auf Informations­freiheit – das ist seit langem Alltag in Nicaragua und wird nun gesetzlich festgeschrieben.«

In einem demokratischen Rechtsstaat ist es kein Delikt, Informationen in Umlauf zu bringen. Bei der Diskussion der Gesetzesvorlage im Parlament wurde sehr deutlich, worum es geht: Etliche Abgeordnete bezogen sich explizit auf Kritik an der Regierung. Es wurde deutlich, dass dieses Gesetz zum Instrument werden soll, Journalisten und aktive Bürgerrechtlerinnen zu bedrohen – mit Gefängnis. Auf den ersten Blick ist die Intention, einzuschüchtern, Selbstzensur zu schüren und Angst zu verbreiten.

Kann dieses Kalkül aufgehen?

Ich denke nicht, denn das Gesetz kommt fast drei Jahre nach den ersten Protesten und die Menschen in Nicaragua haben sich an diese Art von Angriffen gewöhnt. Sie widerstehen.

Ist dieses Gesetz mit der nicaraguanischen Verfassung zu vereinbaren?

Nein, denn die Verfassung enthält das Recht auf Information und das Recht der freien Meinungsäußerung. Zudem gibt es einen Artikel, der die Vorzensur verbietet. Der passt zwar nicht exakt auf dieses Gesetz, aber dieses enthält einen Zensurmechanismus. In dem Moment, in dem die Regierung Informationen und Meldungen, die ihrer Ansicht nach nicht richtig sind, als Falschmeldung und damit als Delikt einstuft, greift sie zur Zensur. Darüber hinaus verletzt sie das Grundrecht auf Informationsfreiheit – das ist seit langem Alltag in Nicaragua und wird nun gesetzlich festgeschrieben.

Wie hat sich der journalistische Alltag in Nicaragua in den vergangenen drei Jahren verändert? Wie war die Situation vor dem Frühjahr 2018, als es zu großen Protesten gegen das Regime Ortegas kam, und wie ist sie heute?

In diesen knapp drei Jahren sind die nicaraguanischen Behörden mit nahezu allen Mitteln gegen die kritische, unabhängige Presse vorgegangen. Der Mord an Ángel Gahona (der Journalist wurde am 21. April 2018 erschossen, während er über Proteste in der Stadt Bluefields berichtete, Anm. d. Red.) ist ein Beispiel, gezielte Angriffe und Überfälle inklusive Raub von journalistischem Material sind ein anderes, die Zensur von Fernseh- und Radiobeiträgen ist ein drittes. Allerdings sind die Behörden auch indirekt gegen Medienunternehmen vorgegangen: Sie haben den Import von Papierrollen für die Zeitungen behindert, Medienunternehmen mit Geldstrafen belegt, aber auch Redaktionen besetzt, beispielsweise die von Confidencial und 100 % Noticias (nicaraguanischer Nachrichtensender, Anm. d. Red.). Unsere Redaktion wird am 15. Dezember zwei Jahre illegal von der Polizei besetzt sein.

Um Berichterstattung zu unter­binden?

Ja, aber es wird auch direkt gegen Journalisten vorgegangen, sie werden kriminalisiert. Ein gravierendes Beispiel dafür ist der Fall von Miguel Mora, dem Direktor von 100 % Noticias, und Lucía Pineda, der Pressechefin des Senders, die mehr als sechs Monate inhaftiert waren und in dieser Zeit isoliert und gefoltert wurden. Die beiden wurden wegen Provokation und des Schürens von Hass inhaftiert und schließlich im Rahmen einer Amnestie freigelassen. Es gibt auch andere Methoden, um Journalisten einzuschüchtern: Polizeikontrollen, die Präsenz von paramilitärischen Schlägern vor ihren Häusern – die ­Angst ging und geht um. Mehr als 70 Berichterstatter verließen 2019 das Land, weil sie sich in Nicaragua nicht sicher fühlten.

Sie gingen Anfang 2019 nach Costa Rica und sind am 25.November 2019 zurückgekommen.

Trotz der Entscheidung, ins Exil zu gehen, haben wir und etliche andere Redaktionen weitergemacht – der kritische Journalismus in Nicaragua ist nie verstummt. Das ist positiv. Auf den Internetportalen der Redaktionen wurde und wird weiter berichtet, auch auf den Kabelkanälen, allerdings werden wir und andere Redaktionen auf den frei zugänglichen Kanälen blockiert und zensiert. Unsere Reichweite ist somit eingeschränkt, deshalb nutzen wir verstärkt unseren Youtube-Kanal.

Hat der Druck auf die Medien in der Covid-19-Pandemie zugenommen?

Ja, dafür geben das Gesetz gegen Internetkriminalität, aber auch das gegen »ausländische Agenten« das beste Beispiel. In den acht Monaten seit Ausbruch der Pandemie hat sich der Zugang zu Informationen weiter verschlechtert. Die unabhängigen Medien haben sich bemüht, all das aufzudecken, was die Regierung über die Pandemie in Nicaragua verschleiert. Offiziell hat die Regierung bis Ende Oktober 156 Todesopfer von Covid-19 registriert. Wir haben allerdings basierend auf offiziellen Zahlen sowie Analysen von Epidemiologen und Virologen herausgefunden, dass rund 7 000 Menschen in Nicaragua an Covid-19 gestorben sein könnten.

Wie ist die Situation in den Krankenhäusern des Landes?

Die Zahl der mit Covid-19 Infizierten in den Krankenhäusern ist relativ gering, es sind deutlich weniger als im April, Mai oder Juni. Das kann daran liegen, dass viele Menschen Angst haben, sich im Krankernhaus zu infizieren. Sie bleiben zu Hause.

Warum sind Sie nach Nicaragua zurückgekehrt?

Wir kämpfen für unser Recht, guten Journalismus zu machen, und haben weitergearbeitet, obwohl unsere Redaktion nach wie vor von der Polizei besetzt ist. Es gibt in Nicaragua keine Pressefreiheit. Sie lässt sich nur erringen, wenn Journalistinnen und Journalisten jeden Tag für sie eintreten sowie kritisch und differenziert berichten.

Engagement ist das eine, aber wie finanziert sich ein Medium, das derart unter Druck steht?

Unsere finanzielle Situation ist schwierig, denn Nicaragua befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise. Wir erhalten für unsere Arbeit aber Spenden aus dem Ausland, die uns über Wasser halten. An diesem Punkt setzt ein weiteres Gesetz an, das Stiftungen, Medien und andere Organisationen, die Gelder aus dem Ausland erhalten, unter Druck setzt – eben das Gesetz gegen »ausländische Agenten«.

Die Bedrohung durch dieses Gesetz ist das eine, aber bereits jetzt werden Geldstrafen ­gegen Medien wie den Fernsehsender Canal 12 verhängt. Wie wirkt sich das aus?

Die Gerichte haben Canal 12 und Canal 10 mit hohen Geldstrafen belegt. Canal 12 steht unter immensem Druck. Er sendet noch die Nachrichten, aber beispielsweise nicht mehr meine Fernsehsendung.

Wie arbeiten Sie unter diesen Bedingungen? Die Regierung verweigert Ihnen und anderen kritischen Medien offizielle Informationen und Stellungnahmen.

Dass ist ja nichts Neues, daran haben wir uns gewöhnt. Es hat bereits vor zehn Jahren begonnen, dass wir von Pressekonferenzen ausgeschlossen und uns Informationen vorenthalten wurden; wir sind also auf alternative Kanäle angewiesen. Wir beobachten, fragen Quellen innerhalb der staatlichen Strukturen, die sich hin und wieder anonym äußern, durchforsten die staatlichen Seiten nach Informationen, Indizien für Korruption – es ist Recherche unter schwierigen Bedingungen. Dabei helfen uns natürlich unabhängige Quellen und Experten, in der Pandemie zum Beispiel Ärzte, Patienten oder Friedhofsangestellte, aber auch Juristen oder Ökonomen, wenn es um die Rezession geht.

Gab es Angriffe auf Sie, werden Sie observiert?

Die Polizei überwacht beispielsweise das Stadtviertel von Managua, in dem ich lebe. Da gibt es seit ein paar Wochen einen Checkpoint, den alle passieren müssen. Schwieriger ist die Situation von Bürgerrechtlern und Bürgerrechtlerinnen, die rund um die Uhr observiert werden wie mein Cousin Juan Sebastián Chamorro, der Direktor der Alianza Cívica.

Wir sind keine Märtyrer. Wir versuchen, uns zu schützen, gehen Konfrontationen aus dem Weg, überlegen, ob wir in der Öffentlichkeit auftreten und wo das Risiko groß ist, auf paramilitärisch organisierte Anhänger der Ortegas zu treffen. Ich konzentriere mich in erster Linie auf meine Arbeit, aber hier in Nicaragua ist niemand wirklich sicher: nicht die Journalisten, nicht die Pastoren, nicht die Unternehmer – wir leben in einem Polizeistaat, und die Regierung schürt immer wieder die Polarisierung und den Hass. Wir werden immer wieder als Umstürzler und Terroristen diffamiert.
 

Carlos Fernando Chamorro ist einer der bekanntesten Journalisten Nicaraguas. Der Sohn des 1978 während der Somoza-Diktatur erschossenen Journalisten Pedro Joaquín Chamorro und der von 1990 bis 1997 amtierenden nicaraguanischen Präsidentin Violeta Chamorro entstammt einer Journalistenfamilie, die die wichtige Tageszeitung »La Prensa« herausgab. Er leitet die kritische, investigative Wochenzeitung »Confidencial«, die inzwischen online erscheint, und moderiert »Esta Noche« (Diese Nacht), einer Analyse- und Talkrunde auf dem Fernsehsender Canal 12. Anfang 2019 ging er für mehrere Monate nach Costa Rica ins Exil, seit November 2019 ist er zurück in Nicaragua und berichtet über das autokratische Regime von Präsident Daniel Ortega und ­seiner Ehefrau Rosario Murillo.