Der zukünftige US-Präsident Joe Biden plant umfangreiche staatliche Investitionen

Ein Klima fürs Geldausgeben

Der zukünftige US-Präsident Joe Biden wird auf der Grundlage einer progressiven Wahlplattform regieren und plant umfangreiche staatliche Investitionen.

Der Höhepunkt einer Pandemie ist nicht die günstigste Zeit, das Amt des Präsidenten der USA zu übernehmen. Wenn Joe Biden dies am 20. Januar tut, wird die Zahl der an Covid-19 Gestorbenen 300 000, die der Infizierten 15 Millionen weit überschritten haben, zumal Donald Trump weniger denn je unternimmt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Derzeit deutet überdies alles darauf hin, dass die Republikaner, nachdem während der Präsidentschaft Trumps die Staatsverschuldung um 36 Prozent auf 27 Billionen US-Dollar gestiegen ist, nun wieder den Fiskalkonservatismus für sich entdecken und ihre Zustimmung zu ökonomischen Hilfsmaßnahmen verweigern werden. Unterdessen werden die Schlangen vor den Essensausgabestellen länger.

Dass die Republikaner wahrscheinlich blockieren werden, wo sie nur können, dürfte angesichts ihrer zu erwartenden Mehrheit im Senat – neben der dezentralen Struktur des politischen Systems der USA, das der Gesetzgebung der Bundesregierung Grenzen setzt – für Biden das wichtigste Hindernis bei der Durchsetzung seiner Reformpläne sein. Die bisher bekannt gewordenen Nominierungen geben noch relativ wenig Auskunft über Details der zukünftigen Politik. Biden bevorzugt erfahrene Politkader und Technokraten mit Expertenwissen. Ron Klain arbeitete als Anwalt, Berater, Lobbyist und Stabschef Bidens, als dieser Obamas Vizepräsident war; er kennt die Regeln der ­Regierungspolitik aus dem Effeff und wird nun Stabschef des Weißen Hauses. Avril Haines war stellvertretende CIA-Direktorin und stellvertretende Nationale Sicherheitsberaterin unter Barack Obama, zukünftig obliegt es ihr als Director of National Intelligence, die Arbeit der 17 US-Nachrichtendienste zu koordinieren.

Anders als in der marktorientierten Klimapolitik soll eine demokratisch gewählte Regierung den industriellen Umbau lenken. Das ist kein Sozialismus, aber eine Abkehr von wirtschaftsliberalen Dogmen.

Zunächst vor allem von symbolischer Bedeutung ist es, den Posten des Special Presidential Envoy for Climate, eines Sondergesandten für den Klimaschutz, zu schaffen und mit jemandem zu besetzen, an dessen Namen sich alle Welt noch erinnert: John Kerry, kein Klimaexperte, aber als ehemaliger Außenminister ein erfahrener Diplomat. Die bislang wohl bedeutsamste Nominierung war die Janet Yellens. Die ehema­lige Vorsitzende der US-Notenbank Federal Reserve wäre nicht nur die erste Finanzministerin der USA, sie ist zudem Keynesianerin, also Befürworterin staatlicher Ausgaben zur Konjunkturbelebung. Neera Tanden, vorgesehen für die Leitung des Office of Management and Budget, und Cecilia Rouse, die zur führenden Wirtschaftsberaterin ernannt wurde, werden der gemäßigten Linken zugerechnet.

Biden ist kein »Neoliberaler«. Er will Geld ausgeben, und zwar ziemlich viel Geld. Wie Analysten der Ratingagentur Moody’s auf Basis seiner Wahlplattform errechneten, könnten in Bidens erster Amtszeit knapp vier Billionen US-Dollar für Klimaschutz, die Konjunkturbelebung nach der Pandemie, Sozial- und Gesundheitspolitik sowie diverse Infrastrukturmaßnahmen aufgewendet werden. Die von Biden befürworteten Steuererhöhungen würden Moody’s zufolge nur etwas mehr als 1,4 Billionen US-Dollar einbringen. Das ist deutlich weniger als das von Trump zu verantwortende Defizit, doch dürften die bescheidenen Ziele Bidens bei der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums die Umsetzung seines Programms behindern.

Das sollte niemanden verwundern. Biden ist kein Linker, die Demokraten sind keine linke Partei. Der Verweis auf seine Biographie und die seiner Vizepräsidentin Kamala Harris sagt jedoch wenig über die Politik der kommenden Jahre aus. Tatsächlich hat Biden die wirtschaftsliberale Politik Bill Clintons unterstützt und Kamala Harris war während ihrer Tätigkeit in der kalifornischen Justiz nicht immer die »furchtlose Anwältin derer, die keine Stimme haben«, als die sie sich nun präsentiert. Doch zum Glück dominiert der Opportunismus. Man tut sich schwer mit Selbstkritik, doch der politische Wandel ist viel tiefgreifender als etwa in der SPD, die sich bislang auf rhetorische und personelle Kosmetik beschränkt.

Biden sprach in der zweiten Fernsehdebatte mit Trump darüber, wie er den »institutionellen Rassismus« in den USA zu bekämpfen gedenke – Olaf Scholz, der von der SPD nominierte Kanzlerkandidat, würde sicherlich bestreiten, dass es so etwas überhaupt gibt. Aussagen der demokratischen Wahlplattform wie »Unser System hat die Armut kriminalisiert« und »Viel zu oft hat das Recht Polizisten geschützt, die abscheulicher Bürger- und Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden« sind keine Garantie für eine tiefgreifende Justiz- und Polizeireform, aber bedeutsamer als die politischen Ansichten, die Biden vor einem Vierteljahrhundert vertrat.

Wie die Republikaner sind auch die Demokraten vornehmlich ein Bündnis von Interessengruppen. Es gibt kein auf Jahrzehnte angelegtes Parteiprogramm, der Parteiapparat hat eine relativ geringe Bedeutung. Wer in den USA eine politische Karriere anstrebt, muss zunächst eine Klientel um sich scharen und Geld sammeln. Das führt zu einer extremen Personalisierung der Politik, erleichtert aber politische Kursänderungen – sie müssen nicht gegen einen schwerfälligen Funktionärsapparat durchgesetzt werden. Das Ergebnis ist nicht immer erfreulich, bei den Republikanern wurde die extreme Rechte gestärkt. Bei den Demokraten hingegen hingegen hat der linke Flügel sich programmatisch recht weitgehend durchsetzen können. Regieren wird ein Duo der Mitte auf der Grundlage einer in sozialpolitischen Fragen gemäßigt sozialdemokratischen, im Hinblick auf die Bürgerrechte ausgesprochen progressiven und in der staatlichen Investitionspolitik sehr ambitionierten Wahlplattform.

Mit der Präsidentschaft Bidens meldet sich somit der Staat als ideeller Gesamtkapitalist zurück, der die Rahmenbedingungen der Verwertung gezielt gestalten will – und dies in fortschrittlicherer Form als in anderen führenden kapitalistischen Ländern. In manchen Bereichen haben die USA erheblichen Nachholbedarf. Mit der Durchsetzung der public option, des individuellen Rechts auf eine staatliche Krankenversicherung, ähnelte das US-Gesundheitssystem dem deutschen – mit dem Unterschied, dass diese Versicherung für Menschen mit niedrigem Einkommen kostenlos sein soll. Die Bürgerrechtspolitik hat ebenfalls ihre pragmatische Seite. In der globalen Konkurrenz ist es ein Wettbewerbsvorteil, das Potential aller Bevölkerungsgruppen auszuschöpfen. Auch der linke Flügel betrachtet die Beseitigung von Diskriminierung und sozialer Benachteiligung vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit, ohne die Hierarchie der Klassengesellschaft in Frage zu stellen.

Einen Vorsprung auf die bürgerlichen Parteien anderer Länder gewinnen die Demokraten vor allem durch die geplante Investitionspolitik. Es ist keine Rede von einer »schwarzen Null« oder davon, die Klimakrise durch eine höhere CO2-Steuer auf Kosten der Armen zu lösen. Biden propagiert den – neben einer ­Arbeitszeitverkürzung – einzigen Weg, Millionen von Arbeitsplätzen zu schaffen: staatliche Investitions- und Beschäftigungsprogramme; bei diesen soll das Geld nur an Unternehmen fließen soll, die gewerkschaftliche Organisierung ermöglichen. Auch die mit der Abkehr von fossilen Brennstoffen verbundene Modernisierung der Infrastruktur ist ein potentieller Wettbewerbsvorteil. Doch anders als in der marktorientierten Klimapolitik soll eine demokratisch gewählte Regierung den industriellen Umbau lenken. Das ist kein Sozialismus, aber eine Abkehr von wirtschaftsliberalen Dogmen – und eine Chance für die Linke.

Das aber erfordert eine andere Herangehensweise an das Zusammenspiel von Partei- und Bewegungspolitik. Nicht allein die US-Linke folgt dem Irrweg der Personalisierung der Politik, wenn sie ausdauernd darüber jammert, dass so wenige ausgewiesene Linke in hohe Positionen gelangen. Doch darauf kommt es gar nicht an, überdies ist nicht recht ersichtlich, warum etwa Bernie Sanders, der seit fast 30 Jahren im Kongress sitzt, weithin als jemand wahrgenommen wird, der nichts mit dem Establishment zu tun hat. Was die Aufgabe der außerparlamentarischen Bewegungen ist, sagte Roosevelt 1941 dem afroamerikanischen Gewerkschafter Asa Philip Randolph, der maßgeblich dazu beitrug, die Executive Order 8802, die erste Verordnung gegen rassistische Diskriminierung in der Arbeitswelt, durchzusetzen: »Sorgen Sie dafür, dass ich es tun muss.« Die US-Bürgerrechtsbewegung war erfolgreich, weil sie unabhängig von der Parteipolitik handelte, aber gezielten Druck auf ­diese ausübte, da gesellschaftliche Fortschritte in Gesetzesform festgeschrieben werden müssen.

Angesichts der zu erwartenden republikanischen Blockadepolitik wird es erheblichen Drucks bedürfen, um Reformen durchzusetzen. Wenn es Biden ­gelingt, im kommenden Jahr mit Impfkampagnen die Pandemie zu bewältigen, dürfte das eine Aufbruchstimmung erzeugen, die genutzt werden kann. Und womöglich werden sich, vergleichbar der Entwicklung in den sechziger Jahren, nicht alle mit besserer Sozialpolitik und gestärkten Bürgerrechten zufriedengeben. Wenn man mit der überlegenen staatlichen Lenkungsmacht unerwünschte Industrien verdrängt, warum nicht gleich die Produktion demokratisch lenken? Sollte neben der Hierarchie der Geschlechter und »Rassen« nicht womöglich auch die der Klassen beseitigt werden? Ob es zu einer solchen Radikalisierung kommt, ist schwer abzuschätzen, doch eine bessere Chance gibt es nicht.