Der sowjetische Antikriegsfilm »Komm und sieh«

Kein Entkommen

Der erschütternde sowjetische Antikriegsfilm »Komm und sieh« von Elem Klimow erscheint in einer restaurierten Fassung auf DVD und Blu-ray.

Der Titel des Films habe eigentlich »Tötet Hitler« lauten sollen, sagt Elem Klimow in einem Interview über die Entstehungsgeschichte des sowjetischen Antikriegsfilms »Idi i smotri«. Sieben Jahre lang blockierte die Zensur das Drehbuch von Alex Adamowitsch und Klimow; es sei zu naturalistisch und verstörend. Zudem sollte der Name Hitlers nicht durch seine Nennung im Titel auf­gewertet werden. Dabei ging es Klimow und Adamowitsch nicht um seine Person, sondern um den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, dessen Symbol Hitler war.

Anfang der Achtziger konnte der Film doch realisiert werden, er kam 1985 unter dem Titel »Idi i smotri« in die Kinos der Sowjetunion. Der Ausruf »Komm und sieh« entstammt der biblischen Offenbarung des Johannes und ist eine Aufforderung, die Verheerungen der apokalyptischen Reiter anzuschauen. In der DDR wurde der Film unter dem Titel »Geh und sieh« gezeigt, in der Bundesrepublik unter dem Titel »Komm und sieh«.

Oft sind es nur dissonante, dumpf dröhnende bis hell pfeifende Geräusche, die zu hören sind und den Einsatz modernster Kriegstechnologie orchestrieren, mit der deutsche Soldaten die slawische und jüdische Bevölkerung vernichten.

Belarus, 1943. Der 14jährige Fljora (Aleksej Krawtschenko) gräbt mit einem gleichaltrigen Freund auf einem verlassenen Schlachtfeld nach einem Gewehr. Denn die Partisanen nehmen ihn nur auf, wenn er ein Gewehr mitbringt. Ein Flugzeug der Wehrmacht fliegt über die Jungen hinweg. Aus dem Off ertönt eine Rede Hitlers, die mit brausendem Applaus aufgenommen wird. Ein deutscher Panzer fährt auf. Die Bedrohung durch die Deutschen ist bereits in dieser Szene präsent. Die Jungen verstecken sich. ­Fljora findet ein Gewehr. Jetzt kann er sich den Partisanen anschließen.

In deren Lager im Wald zwischen hohen Fichten ist das Gefühl der ­Bedrohung allgegenwärtig. Es wird gelacht, aber alles ist überlagert vom Krieg. Vor einer Sanitätsbaracke bleibt Fljora stehen und lächelt freundlich. Eine Frau in einem weißen Kittel voller Blutflecke kommt heraus und bittet ihn weiterzugehen. Sie will ihm den Anblick des Leidens ersparen.

Die Partisanen ziehen weiter, Fljora bleibt im Lager mit der etwas älteren Glascha (Olga Mironowa) zurück, denn der Kommandant will ihnen das Kämpfen nicht zumuten. Fljora verlässt enttäuscht das Lager. Ohne es zu bemerken, zertritt er das Gelege ­eines Storchenpaars. In Großaufnahme ist das schutzlose Nest zu sehen. Fljora trifft wieder auf Glascha, beide weinen, weil sie nicht kämpfen dürfen. So traurig, wie die beiden sind, kann das Publikum nur erahnen, was die beiden bereits erlebt haben.

Selbst im Wald sind sie nicht vor den Deutschen sicher. Das Lager wurde entdeckt, erneut dröhnen Motoren der Flugzeuge dumpf am Himmel. Sprengbomben fallen auf das Waldstück, Bäume werden zerrissen. Fallschirmspringer schweben vom Himmel. Fljora und Glascha flüchten. Nur, wohin? MG-Salven pfeifen um die Jugendlichen, die sich in einem Bombentrichter verstecken. Dann sind die Deutschen weg, für den Moment. Ein Storch läuft an ihrem Versteck vorbei, auf der Suche nach seinem Gelege.

Ein alter Partisan hat in einer Rede vor dem Aufbruch der Gruppe erklärt, die Deutschen hätten mit der Vernichtung von Dörfern begonnen; der Krieg werde noch grauenhafter werden. Fljora macht sich zusammen mit Glascha auf den Weg zurück in sein Dorf. Dort ist es still. Fljora geht unbeirrt in das kleine Haus seiner Familie. Niemand ist da, nur die Fliegen summen durch den Raum. Es ist noch Suppe da, die die Mutter gekocht hat. Die Puppen seiner kleinen Schwestern liegen verstreut auf dem Boden. Auf ihnen sitzen Fliegen wie auf Toten. Glascha will weg. Fljora stürmt los. Beim Wegrennen sieht Glascha einen Leichenberg hinter einem der Holzhäuser: die ermordete Dorfbevölkerung. Die Wehrmacht war schon da. Fljora läuft weiter, durch ein Moor hindurch. Verzweifelt, rastlos kämpfen sich Glascha und Fljora durch das Moor. Fljora will den Tod seiner Familie nicht wahrhaben.

Starke allegorische Bilder kontrastieren mit erschütternd naturalistischen Szenen des deutschen Vernichtungskriegs gegen die russische ­Bevölkerung. Die Natur leidet mit. Es gibt kein Entkommen. Es bleibt nur zurückzuschlagen, sich zu ­wehren.

Die Kamera geht mit, ist in Bewegung, wackelt aber kaum. Halbtotalen wechseln sich ab mit Großaufnahmen. Fljoras Gesicht altert schnell. Am Schluss wird es voller Furchen sein, mit tieftraurigen Augen. Selbst wenn die Kamera kurz auf einem Landschaftsbild verweilt – es ist nur der Moment, bevor die allgegen­wärtige Bedrohung wiederauftaucht, von irgendwo und überall.

Selbst im Nebel gibt es keine Sicherheit, Fljora und seine Glascha werden scheinbar aus dem Nichts beschossen, als sie auf der Suche nach Essen unterwegs sind. Minenfelder, Bombenkrater, niedergebrannte Häuser, Leichen. Überall Spuren der Deutschen, der Wehrmacht. Die ganz gewöhnlichen Deutschen terrorisieren und ermorden als Wehrmachtsoldaten systematisch die Zivilbevölkerung mit allen erdenklichen Waffen, sie kommen mit Flammenwerfern in die Dörfer mit einfachen Holzhäusern. Die Bilder sind brutal, der Ton ist laut. Der Zuschauer soll nicht zur Ruhe kommen. Mozarts Requiem erklingt. Oft sind es aber nur dissonante, dumpf dröhnende bis hell pfeifende Geräusche, die zu hören sind und den Einsatz modernster Kriegstechnologie orchestrieren, mit der deutsche Soldaten die slawische und jüdische Bevölkerung vernichten. Nach der Bombardierung des Walds ist der Ton dumpf, nur ein Pfeifen wie bei einem Tinnitus ist zu hören. Erst allmählich kann Fljora wieder hören.

Der in Köln ansässige Verleih Bildstörung veröffentlicht »Komm und sieh« von einem neu restaurierten 2K-Scan im Originalformat auf DVD und Blu-ray. Zum knapp 200minütigen Zusatzmaterial gehören zahlreiche Interviews sowie Zeugnisse von Überlebenden, die mit stockender Stimme von den Gräueltaten der Deutschen berichten.

An den Dokumentationen war auch Ales Adamowitsch beteiligt. Er hat nicht nur zusammen mit Klimow das Drehbuch zu »Komm und sieh« geschrieben, sondern zehn Jahre zuvor, 1975, auch die literarische Vorlage dazu. Jahrelang war er kreuz und quer durch Belarus gereist, um die Berichte von Überlebenden des deutschen Vernichtungsfeldzugs aufzuzeichnen. Daraus entstand sein Buch »Ich komme aus dem Feuerdorf«. Klimow las es und war tief beeindruckt. Daraus entstand die Idee, gemeinsam mit Adamowitsch das Drehbuch für ­einen Film über den deutschen Vernichtungskrieg zu verfassen.

Große, unüberwindliche Trauer spricht aus den Erzählungen der Zeitzeugen. Die Ukraine und Belarus sind die beiden Sowjetrepubliken, in denen die Deutschen am schlimmsten gewütet haben. Ein Viertel der Bevölkerung wurde dort ermordet. Erst Mitte der achtziger Jahre, als der Film in die sowjetischen Kinos kam, hatte Belarus wieder die Bevölkerungszahl erreicht, die es vor dem deutschen Überfall hatte. Es erstaunt nicht, dass bei Filmvorführungen in der Ukraine und Belarus zahlreiche Menschen zusammenbrachen und ärztliche Hilfe benötigten. ­Damals lebten noch viele, an deren Traumata der Film erinnert.

Komm und sieh (UdSSR 1985). Original mit deutschen Untertiteln. Regie: Elem ­Klimow. Buch: Ales Adamowitsch und Elem Klimow. Mit Olga Mironowa und Aleksej Krawtschenko. Als DVD und Blu-ray erschienen bei Bildstörung, ca. 20 Euro.