Boris Vian macht einen Metawitz

Der Skandal als Metawitz

Der französische Autor Boris Vian pfiff in den vierziger Jahren auf die Konventionen der Literaturszene. Dafür bekam er jede Menge Ärger.

Was sollte man unbedingt machen, wenn man ein berühmter Schriftsteller werden will? Man beschimpft erst mal alle Koryphäen der literarischen Welt. Das jedenfalls dachte sich offenbar der französische Schriftsteller Boris Vian. 1946 reichte er sein Manuskript »L‘Écume des jours« (Der Schaum der Tage) bei Gallimard ein, dem damals wichtigsten französischen Verlag. In dem Roman taucht eine Figur namens Jean-Sol Partre auf, unsympathisch, egoman, angehimmelt von der Jugend der Hauptstadt. Jean-Paul Sartre fand das Ganze überaus komisch, er ließ Teile des Romans in seiner Zeitschrift Les Temps modernes abdrucken und versprach, als Juror bei der Verleihung des Prix de la Pléiade für Vian zu stimmen; der Preis, den man nur für ein unveröffentlichtes Manuskript erhalten konnte, verpflichtete Gallimard zur Veröffentlichung des Buches. Mehrere ­andere Juroren kündigten an, es Sartre gleichtun zu wollen. Umso enttäuschender für Vian, dass sie ihr Versprechen nicht hielten und der Preis an ­seinen Gegenkandidaten ging, Jean Grosjean.

Der Stoff des Romans »Ich werde auf eure Gräber spucken« ist zwischen Trash und Hochkultur angesiedelt, er wirkt heutzutage wie maßgeschneidert für einen Tarantino-Film.

Vian hielt seinen Unmut nicht zurück: Er beschimpfte öffentlich jene Jurymitglieder, die ihm ihre Stimme trotz des Versprechens nicht gegeben hatten, und schrieb ein Gedicht darüber, dass er den Preis nicht gewonnen hatte. In den folgenden Monaten spielte er in seinen Texten immer wieder auf diesen Verrat an: Er benannte sadistische ­Romanfiguren nach Jurymitgliedern und ließ keine Gelegenheit aus, nach­zutreten. In einem Gedicht phantasierte Vian davon, wie er zwei ranghohen Verlagsmitarbeitern auf den Kopf pisst.

Doch Vian brauchte Geld. Er war zwar gelernter Ingenieur und verdiente sein Geld mit der Kalkulation von Reibungsverlusten von LKW-Reifenprofilen, das empfand er aber nicht als seine ­Berufung. Er war passionierter Jazzmusiker, trotz eines Herzleidens spielte er Trompete. Vian wollte Künstler sein, und nicht nur das: Er wollte davon auch leben können. Es brauchte also einen Publikumserfolg, aber wie überhaupt durchkommen? Mitarbeiter des Verlags waren ihm nicht wohlgesinnt, entsprechend wurden seine ­Bücher nicht prominent platziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nicht genügend Papier zum Drucken von ­Büchern, obendrein waren vor allem ausländische Titel gefragt, die während der deutschen Okkupation nicht zu bekommen gewesen waren.

Vian orientierte sich stark an der Kultur der USA, was für französische Künstler bis dato sehr ungewöhnlich war. Er schätzte den Jazz und jene literarischen Mittel, die in Frankreich als unfein galten: schnelle Pointen, plakative Vergleiche, Gespür für Ambivalenzen, expliziter Humor. Ein Teil des französischen Publikums allerdings schätzte insbesondere US-amerikanische Romane mit treibendem Plot, die häufig von harten Kerlen handeln, die sich in ­einer ihnen feindlich gesinnten Welt durchsetzen. Ein Freund Vians verlegte eine Reihe US-amerikanischer Thriller, die man in Frankreich als roman noir bezeichnete; also entschloss Vian sich dazu, Amerikaner zu werden. Innerhalb von zwei Wochen schrieb er unter dem Pseudonym Vernon Sullivan den Roman »J’irai cracher sur vos tombes« (Ich werde auf eure Gräber spucken).

Der Stoff ist zwischen Trash und Hochkultur angesiedelt, er wirkt heutzutage wie maßgeschneidert für einen Tarantino-Film: Ein junger schwarzer Mann wird in den Südstaaten gelyncht, weil er sich in eine weiße Frau verliebte. Sein Bruder, der blond ist und als Weißer wahrgenommen wird, macht sich daraufhin auf, um ihn zu rächen. Er wird Buchhändler am Ort des Verbrechens, ­einem Kaff in Tennessee, und erschleicht sich das Vertrauen der ansässigen Jugend: Er trinkt mit ihnen, feiert mit ihnen, schläft mit ihnen. Am Ende bringt er zwei Töchter der lokalen upper class um, deren Familien sich ihr Vermögen durch Sklavenhandel erwirtschaftet haben. Der Stil ist trocken, drastisch und brutal, die Sexszenen sind für jene Zeit ungewöhnlich explizit.

Das Buch würde einen Skandal hervorrufen, so viel war allen Beteiligten klar; es war aber nicht nur um des Skandals willens geschrieben worden. Frankreichs Gesellschaft war vom Rassismus geprägt. Das Land wollte seine alte Vormachtstellung in der Welt wiederherstellen, dafür glaubte es, seine Kolonien zu brauchen. Um diese zu behalten, schreckte es auch vor Massakern nicht zurück: Im Senegal werden 1944 Weltkriegsveteranen erschossen, als sie ihren Sold einforderten und rebellierten, in Algerien wurden in den Tagen nach dem 8. Mai 1945 Dörfer mit Artillerie beschossen, nachdem in Sétif und anderen Städten Demonstrationen die Unabhängigkeit gefordert hatten und blutige Unruhen ausgebrochen waren. In Indochina brach 1946, im Jahr des Erscheinens des Buchs, ein Krieg gegen die französische Besatzung aus.

Boris Vian trat als Übersetzer des Buchs auf, und der Verlag verkaufte es als einen Roman, der zu schlüpfrig gewesen sei, als dass er in den USA hätte erscheinen dürfen. Es war ein riesiger Erfolg, allein bis 1949 wurden 110 000 Exemplare verkauft. Besonders erfreulich für Boris Vian: Er erhielt nicht nur das zehnprozentige Autorenhonorar pro verkauftem Exemplar, sondern auch noch fünf Prozent für die Übersetzung. Vian konnte sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen, der US-amerikanischer nicht sein könnte: Er kaufte sich ein Auto.

Maßgeblich zum Erfolg trug Daniel Parker bei, der Vorsitzende des »Cartel d’action sociale et morale«, eines konservativen Vereins zur Bewahrung der öffentlichen Moral. Durch seine Klage gegen das Buch wegen Pornographie verschaffte er diesem viel Renommee. Vian fertigte eigens eine englische Version des Romans an, um vor Gericht glaubhaft zu machen, dass er nicht der Autor sei; die französische Presse verfolgte die Verhandlungen intensiv.

1947 erhöhte sich der juristische Druck, nachdem eine junge Frau ermordet und bei ihrer Leiche ein Exemplar des Romans gefunden worden war, das der gefasste Täter später bei der Vernehmung als Inspirationsquelle bezeichnete. Der Autor wurde der Beihilfe zum Mord bezichtigt. Zu einer Ver­urteilung kam es allerdings nicht, die französische Justiz fegte alle Klagen vom Tisch. Zudem erließ das französische Parlament im August 1947 ein Amnestiegesetz, das ab 1939 inkriminierte Werke von der Strafverfolgung ausschloss.

Vian gab 1948 zu, der Autor des Werks zu sein. In einem Interview mit der ­Tageszeitung Combat wurde er gefragt, warum er bei der entscheidenden Verhandlung keine Anwälte an seiner Seite gehabt habe. Vian antwortete: »Sie lügen nicht gut genug. Sie sind kompetent, aber sie haben keine Phantasie.«

Da Vian einige Millionen Franc mit dem Roman verdient hatte, kam nun rückwirkend die Steuerbehörde auf ihn als Autor zu. An den fälligen Steuernachzahlungen ging er vorübergehend bankrott. Als Parker auch gegen eine zweite Auflage mit Klagen drohte, entschloss sich Vian, die Autorenrechte ruhen zu lassen.

Zwar war er nun ein berühmter Schriftsteller, aber anders, als er es sich vorgestellt hatte: Seine ernsten Werke wurden vergleichsweise wenig wahrgenommen, mit einem guten Teil des intellektuellen Establishments hatte er es sich verscherzt. International wurde er kaum rezipiert, weil seine Werke wegen seiner Wortspiele und dem spezifisch französischen Humor ironischerweise nur sehr schwer zu übersetzen sind. Internationale Bekanntheit sollte er erst 1954 mit einem Lied erlangen, »Le Déserteur«, in dem er zum passiven Widerstand gegen die Einberufung zu Kolonialkriegen aufrief. Auch dieses Lied wurde mit Klagen überzogen und zensiert, bis sich Frankreich 1962 aus Algerien zurückzog.

Da war Boris Vian schon drei Jahre tot. Er starb an einer Herzmuskelschwäche, auf die er sein Lebtag lang kaum Rücksicht genommen hatte: Zu gern spielte er seine Trompete, zu wild waren die Nächte, und zu viel Spaß machte ihm die Aufregung, die er verursachte. Sein Herz blieb bei der ­Abnahme des Films stehen, dem »Ich werde auf eure Gräber spucken« als Vorlage gedient hatte und der im Sommer 1959 in die Kinos kam.