Nach der Einigung mit der EU muss Großbritannien weitere Handelsabkommen schließen

Schlechtes Timing

Nachdem in letzter Minute eine Einigung mit der EU erzielt worden ist, bemüht sich Großbritannien nun um Handelsabkommen mit anderen Staaten. Doch die Bedingungen sind schwieriger geworden.

Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Eintritt in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist Großbritannien wieder auf sich alleine gestellt. Zumindest der britische Premierminister Boris Johnson und die mit ihm verbündete Boulevardpresse feierten am Neujahrstag den vertraglichen Abschluss des EU-Austrittsprozesses Großbritanniens als großen Sieg. Es sei ein »großartiger Moment in der Geschichte des Landes«, jubelte Johnson. Das Land könne nun »Handelsabkommen rund um die Welt« abschließen und sich zu einer »wissenschaftlichen Supermacht« entwickeln.

Die britischen Konservativen trieben den EU-Austritt just in dem Moment voran, in dem die mächtigen Wirtschaftsblöcke der Welt ihre Handelspolitik änderten.

Ob es dazu kommt, ist jedoch wohl mehr als zweifelhaft. Das 1 386 Seiten starke Handels- und Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und Groß­britannien hat einen harten Bruch gerade noch verhindert, lässt aber viele Fragen offen. Das Abkommen macht zwar Zölle unnötig, schafft jedoch gleichzeitig eine aufwendige Bürokratie, die die britischen Unternehmen pro Jahr schätzungsweise rund 13 Mil­liarden Pfund kosten wird. An den Grenzen werden künftig umfangreiche Kontrollen erfolgen, um zu überprüfen, ob die Handelsgüter den vereinbarten Standards genügen. Allein in diesem Jahr werden britische Unternehmen und Spediteure wohl rund 400 Millionen weitere Zollerklärungen einreichen müssen. Die Bürgerinnen und Bürger können nicht mehr einfach umziehen, und auch visumfreies Reisen ist künftig zeitlich begrenzt. Für viele Bereiche finden sich im Abkommen keine Bestimmungen; wie es beispielsweise mit den britischen Finanzdienstleistungen weitergeht, ist nicht klar geregelt. Doch dürfte diese für die britische Wirtschaft besonders wichtige Branche nicht wie bisher in der EU tätig sein können.

Diese Nachteile nahm Johnson unter anderem in Kauf, um endlich der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs zu entkommen. Bislang musste sich die Regierung in London dessen Urteilen beugen, für britische Konservative war dies ein besonders schmachvolles Symbol des nationalen Souveränitätsverlusts. Nun soll ein noch einzurichtendes Schiedsgericht, ein sogenannter Gemeinsamer Partnerschaftsrat, bei Streitigkeiten zwischen der EU und Großbritannien entscheiden. Niemand weiß bislang, wie sich dieses Gericht zusammensetzen, welche Befugnisse es haben und nach welchen Kriterien es urteilen soll. Weniger Transparenz ist kaum möglich.

Das gilt auch für die jeweiligen Parlamente: Mit der Einigung am 24. Dezem­ber kurz vor Ablauf der Übergangsfrist wurden die Abgeordneten in London wie in Straßburg vor vollendete Tat­sachen gestellt. Ihnen bleibt nicht viel anderes übrig, als über ein Abkommen abzustimmen, an dem sie nichts mehr ändern können.

In den Augen der Torys wird damit ein jahrzehntelanges Missverständnis beendet. Die Europäische Union war für viele britische Konservative nie mehr als eine große Freihandelszone, die den Export britischer Waren erleichtern sollte. Diese Einstellung formulierte bereits 1988 die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher in der berühmten »Brügge-Rede«. Ihre Regierung habe nicht die Rolle des Staats zurückgefahren, sagte sie damals, nur um jetzt einem europäischen »Superstaat« dabei zuzuschauen, wie er den Briten eine neue Oberherrschaft aus Brüssel aufzwinge. Johnson griff mit dem Slogan »Take back control« diese Botschaft auf und versprach, Großbritannien wieder zu alter Größe zu führen. Befreit von bürokratischen Fesseln könne das Land endlich sein Schicksal selbst bestimmen.

Zunächst ist Johnson mit dem »Brexit« allerdings das Kunststück gelungen, den eigenen Binnenmarkt enger zu ­ziehen als die staatlichen Grenzen, von denen er umschlossen wird. Um eine reguläre EU-Außengrenze zwischen dem britischen Norden und dem irischen Süden zu vermeiden, gilt auf der gesamten irischen Insel weiterhin EU-Recht. Nordirland bleibt also faktisch Mitglied in der Zollunion und dem europäischen Binnenmarkt, auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind dort weiterhin gültig. Die Ausfuhren in das restliche Vereinigte Königreich unterliegen hingegen umfang­reichen Kontrollen – eine Regelung, die Johnson in den vergangenen Jahren immer kategorisch aus­geschlossen hatte. Mehrheitlich stimmten die ­Abgeordneten im nordirischen Regionalparlament deswegen gegen das Abkommen.

In Schottland bereitet sich derweil die regierende Scottish National Party (SNP) auf ein neues Unabhängigkeitsreferendum vor; 2014 hatten sich die Schotten in einem solchen Referendum gegen die Abspaltung vom Vereinigten Königreich ausgesprochen. »Schottland wird bald wieder in Europa sein. Lasst das Licht an«, schrieb die schot­tische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon in der Silvesternacht auf Twitter. Nicht ausgeschlossen, dass der Traum von einem greater Britain, von dem Johnson gerne spricht, irgendwann in der Realität eines smaller Britain endet.

Seiner Regierung bleibt die Hoffnung, dass Großbritannien nun vorteilhaf­tere Handelsverträge abschließen kann. Tatsächlich hat sie mit rund 60 Staaten neue Abkommen getroffen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei ­jedoch um Kopien der EU-Verträge mit diesen Ländern, die ab Januar für Großbritannien nicht mehr gelten. Große Erwartungen sind daher mit den künftigen Beziehungen zu den Commonwealth-Staaten und einigen asia­tischen Ländern verbunden.

Doch anstatt lukrative Handelsverträge abzuschließen, wird Großbritannien sich nach den Maßstäben richten müssen, die größere Wirtschaftsmächte vorgeben. Bereits in den Verhandlungen mit der EU-Kommission blieb Johnson am Ende nichts anderes übrig, als deren Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu akzeptieren. Bei vielen anderen Verhandlungen wird es wohl ähnlich laufen – je größer die Wirtschaftsmacht des Handelspartners, desto geringer fällt der Verhandlungsspielraum der Briten aus. Warum sollte etwa Indien ausgerechnet die ehema­ligen Kolonialherren bevorzugt behandeln, zumal sie nicht mehr über un­begrenzten Zugang zum EU-Binnenmarkt verfügen?

Ein Beispiel, wie die realen Machtverhältnisse liegen, liefert derzeit China. Die australische Regierung hatte im vergangenen Jahr China wegen dessen Vorgehen in Hongkong kritisiert und mehr Transparenz verlangt, um die Entstehung des Covid-19-Erregers aufzuklären. China bezeichnete diese Kritik als »feindliches Verhalten« und verhängte daraufhin einen Importstopp für Kohle aus Australien. Dieser Rohstoff ist das wichtigste Exportprodukt des Landes, China dessen größter Abnehmer. Großbritannien, wiewohl es schon lange keine Kohle mehr exportiert, könnte es ähnlich ergehen wie dem Commonwealth-Staat Australien.

Ein Abkommen mit den USA ist für Großbritannien nicht in Sicht. Pre­mierminister Johnson hatte einen solchen Vertrag immer wieder in Aussicht gestellt, um mögliche wirtschaftliche Verluste durch den EU-Austritt zu kompensieren. Der designierte US-Präsident Joe Biden zeigt sich bislang jedoch weder vom »Brexit« noch von Johnson begeistert. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die special relationship zwischen Großbritannien und den USA den EU-Austritt unbeschadet übersteht.

Darin drückt sich eine historische Fehleinschätzung der Torys aus, die vor fünf Jahren das »Brexit«-Referendum durchgesetzt hatten. Sie trieben ihren Plan, Großbritannien als ein Zentrum des globalen Freihandels zu etablieren, just in dem Moment voran, in dem die mächtigsten Wirtschaftsblöcke der Welt ihre Handelspolitik änderten. Mit seiner »America First«-Politik richtete Präsident Donald Trump die US-Handelspolitik ausschließlich auf unmittelbare nationale Interessen aus, sein designierter Nachfolger Joe Biden wird wohl keine gänzlich andere Politik betreiben. China hat in den vergangenen Jahren seine Einflusssphäre erheblich ausgebaut und vor wenigen Wochen mit 14 asiatisch-pazifischen Staaten den größten Wirtschaftsblock der Welt etabliert. Bei der EU hat der »Brexit«-Prozess paradoxerweise dazu geführt, dass sie geschlossener auftritt als zuvor.

»Das ganze ›Global Britain‹-Modell spiegelt nicht die protektionistischere, nationalistischere Welt wider, in der wir leben«, zitierte kürzlich die New York Times Thomas Wright von der Brookings Institution, einem einflussreichen Think Tank mit Sitz in Washington, D.C. »Im Jahr 2016 ein globaler Freihändler zu werden, ist ein bisschen so, als würde man im Jahr 1989 zum Kommunisten. Es ist ein schlechtes Timing.«