Der Fotograf Eiko Grimberg hat einen Bildband zum Berliner Schloss veröffentlicht

Schielen gegen die Mitte

Der im Dezember eröffnete Neubau des Berliner Schlosses sorgte jahrelang für Unmut. Der Künstler Eiko Grimberg hat die Bauarbeiten fotografisch begleitet und sich dafür auch durch die Mythen Preußens, der DDR und der Bundesrepublik gearbeitet.

1852 schrieb Karl Marx im Anschluss an seine berühmte Formulierung, dass sich weltgeschichtliche Tatsachen immer zweimal – als Tragödie und als Farce – ereigneten: »Gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.« Das Berliner Schloss war da schon mehr als 400 Jahre alt. Die Wiedererrichtung des 1950 gesprengten Baus ist ein Versuch, die Kostüme Preußens zum Zweck nationalstaatlicher Identitätsstiftung zu entlehnen.

Neun Jahre lang begleitete der Künstler Eiko Grimberg fotografisch die Bauarbeiten in Berlins Mitte. Seine Arbeiten präsentierte er zunächst in Ausstellungen – »Zwischenberichte« nennt er sie –, die nun im Bildband »Rückschaufehler« auf 116 Seiten zusammengefasst sind.

Grimbergs Bilder konzentrieren sich auf Fassaden, blinde Fenster, Kulissen, Bauzäune, Absperrbänder, Geländer, Gerüste, Nashornhaut, Graffiti, Tierparkanlagen, Unkraut, leere Schilder und Werbebanner.

Der Band versammelt vorwiegend undatierte und nicht annotierte Außenaufnahmen, die nicht nur Berlin-Mitte und das im Bau befindliche Schloss zeigen, sondern auch den 1954 gegründeten Tierpark in Berlin-Friedrichsfelde und Depots, in denen demontierte Schlossornamente abgestellt sind. Den Weg in den Tierpark, erzählt Grimberg im Gespräch mit der Jungle World, habe er durch Legenden über die Steine gefunden: Der Affentempel sei zu DDR-Zeiten aus Trümmern des alten Schlosses erbaut und eine Stalin-Skulptur eingeschmolzen worden, um daraus einen Säbelzahntiger anzufertigen.

Diese Legenden werden im Band jedoch in einer Art Index durch Fakten korrigiert. Der Index bietet aber weder einen umfassenden historischen Kommentar noch eine Rekonstruktion der Debatten über Schloss und Palast oder der Zwischennutzungen und Kritiken geplanter Nutzungen, wie sie etwa die Gruppe »Alexandertechnik« und gegenwärtig »Decolonize the City« artikulieren. Stattdessen gibt er Einblicke in die Geschichte der Steine vom Abriss des Schlosses bis zum Abriss des Palasts der Republik.

Dort kann man zum Beispiel von der berühmten Versetzung des Schlossbalkons ins Staatsratsgebäude der DDR gleich gegenüber dem alten Schloss lesen – auch die DDR kleidete sich in die Kostüme der Geschichte – und davon, dass wegen Materialmangels gern Trümmer recycelt wurden. Granitsteine der Reichsbank wanderten beispielsweise ins Eisbärengehege nach Friedrichsfelde. Statt einer ­politischen Deutung, die die Geschichte zum Naturschauspiel in Beziehung setzt, zog man allerdings die »impressionistische Wirkung« vor, die die Präsentation der Tiere in »eindrucksvoller Kulisse« und »wie auf einer Bühne« erzielen sollte.

Viele Tiergattungen wiederum verweisen zurück auf den Kolonialismus: Erbeutet als Trophäen, stellte man sie im Zoo aus, wo sie wiederum Modell standen für Bildhauer, deren Plastiken dann imperiale Denkmäler schmückten – wie etwa die vier Löwen auf dem Sockel des Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmals, das sich neben dem Berliner Schloss befand. Die Löwen eigneten sich durch ihren Stein gewordenen Schrecken hervorragend dazu, Macht zu repräsentieren.

Das einzige, wenn man so will, Porträt im Band zeigt einen abgekämpften, vielleicht sedierten Löwen, als hätte ihm die Symbolisierung der Macht die Lebendigkeit ausgesaugt. Auf seiner Stirn prangt ein roter Fleck, der den Inventaretiketten auf den Steinen ähnelt, die in den Depots lagern. Die Zäune des Tierparks erkennt der Betrachter in den Absperrungen, den Bauzäunen der neuen Berliner Mitte wieder, die Grimberg immer wieder ins Bild aufnimmt.

Der Index ist vollständig aus Zitaten montiert: Zitate von Architekturhis­torikern und »Siegern der Geschichte« – zu denen auch die DDR einmal gehörte – sowie Notizen zum Begriff der Geschichte von Hartmut Bitomsky oder Henning Ritter. Im Unterschied zur Bildunterschrift, die autoritativ mit dem einzelnen Bild verbunden ist, ist der Indextext lediglich um kleinformatige Bilder ergänzt, die aus der Fotostrecke der ersten zwei Drittel des Buchs herausgefallen waren. Auf diese Weise gibt Grimberg Einblick in seine editorische Arbeit und ihre unvermeidliche Unvollständigkeit und betont zugleich die Differenzen und Lücken zwischen Zitaten, ­Fotografien, Objekten, Erinnerungen und Deutungen.

Die Rolle der DDR wird nicht stilisiert oder nostalgisch zum Refugium eines anderen Deutschlands erklärt, sondern Index und Fotografie verweisen auf verleugnete Ähnlichkeiten: die Fixierung auf die Mitte, in der sich die Staatsmacht im Kulturschloss oder Palast inszeniert, die ­architektonische Auslöschung der vorherigen Geschichte, die Wiederbelebung Preußens, eines Staats, den der Alliierte Kontrollrat 1947 aufgelöst hatte, weil er »seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland« gewesen sei.

Grimbergs Bilder konzentrieren sich auf Fassaden, blinde Fenster, ­Kulissen, Bauzäune, Absperrbänder, Geländer, Gerüste, Nashornhaut, Graffiti, Tierparkanlagen, Unkraut, leere Schilder und Werbebanner. Die großen, meist hochformatigen Bilder sind an den Außenrändern der Buchseiten platziert, so dass die Seite zum Innenrand hin einen ­großen Weißraum aufweisen, die die Leere betont. Auch die Serie selbst ist durch Leerseiten unterbrochen; den Bildern sind Strenge und Distanz zu eigen. Auf ganzheitliche Groß- und Höhenachsen, die sozusagen reine Formen in entfernt-souveränen An- und Übersichten mit Monumentalität betonen, wird verzichtet. Stattdessen zeichnet die Kamera Risse auf, die wie Narben der Geschichte wirken und mit Fiktionen von Einheit, Bruchlosigkeit und Organizität unvereinbar sind.

Auf dem einleitenden Bild des Bandes sieht man einen demontierten gusseisernen Adler. Das imperiale Symboltier nationaler Selbstdarstellung ist am Oberkörper weit aufgerissen und innen hohl. Im Bild verwandelt er sich zur Allegorie auf eine Nationalgeschichte, die so fadenscheinig ist, dass sie immer wieder neu gestopft und vernäht werden muss.

Als Kontrapunkt zu den üblichen Kompositionen Grimbergs findet sich fast in der Buchmitte ein nach innen gerücktes, gebrochenes querformatiges Foto eines Postkartenständers. Dessen Mitte ist wiederum befüllt mit querformatigen Bildern des Schlosses und des Brandenburger Tors in Mediumgrau und Sepia. Als Souvenir geben sie Touristen kanonisierte Ansichten intakter historischer Objekte und nutzen den Verkaufsort als scheinbaren Garant von Authentizität, während sie dessen labile Gegenwart bildlich verstellen. Parallel treten in Grimbergs Fotos Bilder von Bildern gegen Lücken an: Werbung oder künstliche Fassaden verdoppeln homogene Ansichten, blockieren den Blick und bewerben das Zukünftige als stabilen Immobilienbesitz.

Die Blicke des Betrachters der »Rückschaufehler« bekommen das Gesehene nicht recht zu fassen, ähnlich wie ein mit dem Terrain unvertrauter Spaziergänger: Man hält die Fotos mal dicht, mal fern vor sich, blättert vor zum Index und zurück, geht den Spuren nach, sucht außerhalb des Buchs nach Materialgeschichten, die dort nicht erhellt werden, oder versucht Objekte zu iden­tifizieren, die einem mit der Stadt Unvertrauten nicht auf den ersten Blick bekannt sind.

In der Betrachtung fotografisch ausgeschnittener Materialtexturen baut sich Nähe zum Gegenstand über das ästhetische Interesse am Arrangement geometrischer Formen und eklektizistischer Materialmontagen auf, eine Nähe, die nicht in der ­archäologischen Spurensuche aufgeht.

Eiko Grimberg: Rückschaufehler. Kodoji Press, Baden 2020, 116 Seiten, 30 CHF