Laborbericht: Die Erforschung der Menschheitsgeschichte ist oft durch Vorurteile gepräg

Pustelschwein und Piltdown-Fake

Laborbericht. Von Svenna Triebler
Kolumne Von

Auch wenn Graffitigegner das nicht gerne hören werden: Die Freude am Bemalen von Wänden ist so alt wie die Menschheit, unsere ausgestorbenen Verwandten inbegriffen. Bereits vor 64 000 Jahren hinterließen (mutmaßlich) Neandertaler Umrisse ihrer Hände in einer Höhle im heutigen Spanien, und Zehntausende Jahre später folgten die modernen Menschen mit Abbildungen ihrer Lebenswelt. Lange galt Europa als Ausgangspunkt dieser figürlichen Kunst, mit den Tiermalereien der Höhle von Chauvet in Frankreich als vermeintlich frühestem Beispiel; die ersten der dortigen Darstellungen werden auf ein Alter von 32 000 bis 35 000 Jahren geschätzt. Die Vorstellung von Ureuropäern als den Erfindern dieser steinzeitlichen Kunstform geriet erst 2014 mit neuen Unter­suchungen südostasiatischer Felsmalereien ins Wanken: Bilder von Jagdwild auf Sulawesi und Borneo ­erwiesen sich mit rund 40 000 Jahren nicht nur als deutlich älter als zuvor geschätzt, sondern sogar als früheste bis dahin bekannte Beispiele für darstellende Felskunst.
Auch der neue Rekordhalter des Genres stammt aus der Region: Vor mindestens 45 500 Jahren hinterließen unbekannte Künstler oder Künstlerinnen die Abbildung von drei Sulawesi-Pustelschweinen (was für ein schöner Name) in einer Höhle auf der indonesischen Insel. Das ergab jüngst die chemische Analyse des Kalks, der sich im Lauf der Zeit auf den Male­reien abgelagert hat. Dass es so lange gedauert hat, das wahre Alter der in vielen Fällen schon vor Jahrzehnten entdeckten Felsbilder in Südostasien zu er­kennen, hat wohl ebenso viel mit Eurozentrismus zu tun wie mit neuen Datierungsverfahren. Überhaupt ist die Erforschung der Menschheitsgeschichte nicht selten von Vorurteilen geprägt. Peinlichstes Beispiel ist der sogenannte Piltdown-Mensch, ein 1912 in ­Süd­england gefundener vermeintlicher Urmensch – was besser ins kolonialrassistische Weltbild passte als die sich in den folgenden Jahrzehnten verdichtenden Hinweise, dass der Homo sapiens aus Afrika stammt. Erst 1953 kam heraus, dass es sich um eine aus einem menschlichen Schädel und dem Unterkiefer eines Orang-Utans angefertigte Fälschung handelte.
Auch die jüngere Forschung ist nicht frei von kulturell bestimmten Vorannahmen. Findet man etwa Waffen als Grabbeigaben, wird noch immer oft vermutet, dass es sich bei der bestatteten Person um ­einen Mann handeln müsse, und für urzeitliche nomadische Gesellschaften gilt nach wie vor oft die Grundannahme: »Männer jagen, Frauen sammeln.« Dass Untersuchungen in den vergangenen Jahren dann doch etliche Kriegerinnen und Jägerinnen aus historischer beziehungsweise prähistorischer Zeit identifiziert haben, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass mittlerweile mehr Frauen in der Forschung ­tätig sind und vermeintliche Selbstverständlichkeiten in ­Frage stellen. Es gibt in der Ur- und Frühgeschichte wohl noch viel zutage zu fördern.