Im Altenheim zeigt sich das Versagen der israelischen Rgierung bei der ­Pandemiebekämpfung

Angst und Isolation

Die Impfkampagne in Israel ist erfolgreich, dennoch stieg die Zahl der Neuinfektionen im Januar rasant – vor allem aufgrund der zögerlichen Politik der Regierung und des Verhaltens der Ultraorthodoxen, die sich nicht an die Auflagen halten. Die Folgen zeigt sich unter anderem in den Pflegeheimen.
Reportage Von

Im Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu steht ein gläserner Schaukasten, der die Spritze museal ausstellt, mit der Netanyahu am 19. Dezember als erster Israeli geimpft wurde. Das Ausstellungsstück ist mit einem Zitat Netanyahus versehen: »Ein kleine Injektion für einen Einzelnen, ein großer Schritt für die Gesundheit von uns allen.«

Der offizielle Beginn der israelischen Impfkampagne war begleitet von einer Regierungskrise. Die Knesset, das israelische Parlament, löste sich am 23. Dezember auf, am 23. März soll zum vierten Mal in zwei Jahren gewählt werden. Der Ministerpräsident hatte sich zuvor der Verabschiedung des im Koalitionsvertrag vereinbarten und von Finanz- und Wirtschaftsexperten angemahnten Doppelhaushalts für 2020 und 2021 verweigert.

Netanyahus Kalkül war offenbar, mit einer erfolgreichen Impfkampagne sein desaströses Krisenmanagement während der Pandemie vergessen zu machen und sich im Wahlkampf als Retter darstellen zu können. Doch im Januar wurden mehr Ansteckungen als in jedem Monat zuvor verzeichnet und die hohe Zahl der schweren Krankheitsverläufe brachte das Gesundheitssystem an seine Grenzen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums war ein Drittel der Todesopfer im Januar zu verzeichnen – während das Land die weltweit höchste Impfquote aufweist.

Monatelang war es die größte Sorge gewesen, dass das Virus ins Elternheim eindringen könnte; nun galt es, alles zu tun, um seine Ausbreitung im Heim aufzuhalten.

Die Angestellten des Elternheims »Pinchas Rosen« in Ramat Gan bewegten sich im Spätherbst mit großer Vorsicht in der Öffentlichkeit und konnten eine Ansteckung vermeiden. Am 24. Dezember aber wurde eine private Betreuerin positiv getestet und bei vier Tage später vorgenommenen Tests wurde bei dem von ihr betreuten Bewohner die erste Infektion bei einem alten Menschen im Heim nachgewiesen. Alle Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Angestellten wurden am 31. Dezember abermals getestet. Die erste Impfung im Heim erfolgte am Neujahrstag, die an diesem Tag eingetrof­fenen Ergebnisse der Tests zeigten, dass es zwei weitere Infektionen gegeben hatte.

Am 27. Dezember, als die über sieben Tage berechnete durchschnittliche Zahl der Neuinfektionen pro Tag 3 816 betrug, verhängte die Regierung einen landesweiten Lockdown. Alle nicht der Grundversorgung dienenden Geschäfte mussten schließen, der öffentliche Nahverkehr wurde eingeschränkt und der Essensverkauf zur Mitnahme verboten, nur in Ausnahmefällen darf man sich weiter als einen Kilometer von seinem Haus entfernen. Da sich die Regelungen als unzureichend erwiesen, wurden am 7. Januar die Schulen geschlossen.

Doch vor allem in den mehrheitlich ultraorthodoxen Städten gab es zahlreiche Verstöße gegen die Restriktionen, Mitte Januar fiel dort ein Viertel der Tests positiv aus, während es in Tel Aviv und und anderen säkularen Städten etwa fünf Prozent waren. Trotzdem wurden gemessen an der Bevölkerungszahl in säkularen Städten mehr als doppelt so viele Bußgeldbescheide ausgestellt wie in den ultraorthodoxen. Während sich andernorts mehr als 10 000 Ultraorthodoxe unbehelligt versammeln können, verteilt die Polizei in Tel Aviv Strafzettel an Menschen, die im öffentlichen Raum Kaffee getrunken haben.

Bereits am Neujahrstag war mehr als eine Million Israelis geimpft worden – andererseits betrug der Sieben-Tage-Mittelwert 4 874. Es wurde klar, dass sich im Land die leichter übertragbare Mutationen des Virus ausbreiteten, vor allem die zuerst in Großbritannien aufgetretene Variante.

Hoffnung machte, dass sich Israel, im Gegenzug für die Lieferung umfangreicher Daten über Geimpfte, eine große Menge des Impfstoffs von Pfizer/Biontech gesichert hatte. Das israelische Krankenversicherungssystem, eine Hinterlassenschaft aus den Zeiten sozialdemokratischer Regierungen, erwies sich als sehr effizient und ermöglichte schnelle Impfungen.

Bei den Tests im Heim »Pinchas Rosen« am 3., 6. und 10. Januar gab es bei acht weiteren alten Menschen und einer weiteren privaten Betreuerin positive Ergebnisse. Alle Bewohnerinnen und Bewohner mussten in ihren Wohneinheiten isoliert und alle Aktivitäten abgesagt, das Heim abgeriegelt und jeder Besuch im Vorhof verboten werden. Monatelang war es die größte Sorge gewesen, dass das Virus ins Heim eindringen könnte; nun galt es, alles zu tun, um seine Ausbreitung im Heim aufzuhalten und die Infizierten in ihrem Überlebenskampf so gut wie möglich zu unterstützen.

Entmutigend wirkte sich aus, dass in dieser Zeit in einer Reihe von Pflegeheimen Covid-19-Ausbrüche verzeichnet wurden. Das wiederholte Warten auf die Testergebnisse war für die Menschen im Heim nervlich sehr belastend. Für die Angestellten mit direktem Kontakt zu den Bewohnerinnen und Bewohnern war es eine Herausforderung, beruhigen und gleichzeitig bestimmt durchsetzen zu müssen, dass niemand gegen die Quarantäne­regeln verstößt.

Schutzanzug

Extreme Kontaktbeschränkung. Auf der Isolierstation des Heims muss Schutzkleidung getragen werden

Bild:
privat

Ein größerer Teil der Station des Elternheims, auf der der Autor dieses Textes arbeitet, wurde zur Isolierstation. Diese zu betreten, erforderte ein sorgsames Einkleiden mit Overall, Fuß­überziehern, Haube, zwei Masken und Gesichtsvisier. Als die erste Bewohne­rin an Covid-19 verstarb, war dies ein schwerer Schock. Auch außerhalb der Isolierstation waren ein Chirurgenhemd, Maske, Handschuhe und Haarnetz zu tragen, um weitere Infektionen zu vermeiden. Essen gab es nur auf Einweg­geschirr.

Die Infizierten waren verängstigt und ihr einziger menschlicher Kontakt waren völlig vermummte Angestellte, die kaum durch ihre beschlagen Gesichtsvisiere sehen konnten und den Kontakt auf ein Minimum beschränken mussten. Hinzu kam das unvermeidliche Gefühl der Infizierten, im Heim stigmatisiert und ausgegrenzt zu sein, was in ihrem Alter besonders demütigend sein muss.

Es schien fast unmöglich, inmitten verängstigter Bewohnerinnen und Bewohner und in Sorge um die eigene Familie die Nerven zu behalten.

Mitte Januar gab es bei zwei Angestellten positive Testergebnisse, am 21. Januar waren alle Testergebnisse negativ, einschließlich der von acht zuvor infizierten Bewohnerinnen und Bewohnern. Zwei alte Menschen, die sich infiziert hatten, waren jedoch verstorben: Rivka und Asher.

Sie waren zwei von mehr als 900 Holocaust-Überlebenden, die an Covid-19 gestorben sind. Rivka überlebte Auschwitz. Asher war Zwangsarbeiter in Bayern und kämpfte im israelischen Unabhängigkeitskrieg. In seinem späteren, zivilen Leben betrieb er ein Kleidergeschäft in Jaffa, das sich einen guten Ruf für seine sorgsam ausgewählte Ware erwarb, die er aus dem Ausland bezog. Er arbeitete sein Leben lang hart und gründete eine große Familie; für seinen Lebensabend vorgesorgt zu haben, erfüllte ihn mit großem Stolz. Eine Woche nach ihrer ersten Impfung infizierten seine Frau und er sich mit Sars-CoV-2. Während seine Frau nur leichte Symptome hatte, kämpfte der 94jährige um sein Leben. Sein Zustand verschlechterte sich, er brauchte immer mehr Hilfe, was ihn sehr belastete. Trotz Sauerstoffbeatmung war unverkennbar, dass er angestrengt nach Luft schnappen musste. Er kam auf die Coronastation im Krankenhaus von Tel HaShomer und von dort nach einem Tag wieder zurück.

Was auch immer er auf der Corona­station gesehen hat, muss ihn völlig verstört haben. Als die Sauerstoffsättigung in seinem Blut so stark abfiel, dass er verzweifelt nach Luft rang und die Sauerstoffzufuhr auf Anschlag gedreht werden musste, sollte er erneut ins Krankenhaus gebracht werden, verweigerte sich dem aber mit der letzten Kraft, die er aufbringen konnte. Wenig später erstickte er bei relativ klarem Bewusstsein.

Am 17. Januar betrug der Sieben-Tage-Mittelwert in Israel 8 624. Im Heim wurde die zweite Impfdosis am 22. Januar verabreicht, in der folgenden Woche konnten die Quarantäne für die Bewohnerinnen und Bewohner aufgehoben und der Speisesaal geöffnet werden. Die Ereignisse zuvor waren aber so traumatisch und die offenen Fragen zum Impfschutz sind noch so zahlreich, dass die Restriktionen nur sehr zögerlich zurückgenommen werden. Die eine Woche nach der zweiten Impfung erlassenen Bestimmungen für das Heim lassen eine Rückkehr zur Normalität in weite Ferne rücken: Nach Absprache mit den zuständigen Behörden verfügte die Heimleitung maximale Vorsichtsmaßnahmen und erstellte eine lange Liste von Einschränkungen, die auch über die Einhaltung eines Mindestabstandes von zwei Metern und die Maskenpflicht hinausgehen.

Im Speisesaal wird in Schichten gegessen, an jedem Tisch darf nur eine Person sitzen. Besuche sind nur in einem dafür abgegrenzten Bereich und nur nach Voranmeldung, unter Einhaltung strenger Hygieneregeln und zeitlich sehr begrenzt möglich. Unter 16jährigen ist der Besuch verboten. Die An­gestellten müssen sich mindestens zwei weitere Monate lang jede Woche testen lassen. Die ersehnten Umarmungen sind auch fast ein Jahr nach Beginn der Pandemie nicht möglich.

Das politische Versagen der Regierung in der Coronakrise in Israel reicht weit über die voreilige und chaotische Öffnung nach dem Lockdown während der ersten Welle und das Versäumnis hinaus, die völlig ineffektive epidemiologische Nachverfolgung im Sommer nicht verbessert zu haben. Wegen des relativ geringen Personenverkehrs über die Landesgrenzen hinweg sollte die Infektionsrate in Israel mit der von kleineren Inselstaaten verglichen werden. Das Land hatte eine sehr gute Ausgangsposition für die Bekämpfung von Covid-19, doch war die Einreise aus Gebieten mit hohen Infektionsraten lange möglich. Erst am 26. Januar wurde der Flughafen Ben Gurion geschlossen – viel zu spät, um zu verhindern, dass sich noch gefährlichere Mutationen des Virus im Land verbreiten. Nahman Ash, der Coronabeauftragte der Regierung, sagte am 25. Januar, auf die von Reiserückkehrern ins Land gebrachte, zuerst in Großbritannien nachgewiesene Variante seien schätzungsweise 40 bis 50 Prozent der neuen Fälle zurückzuführen. Die zunächst bis Ende Januar befristeten Restriktionen wurden verlängert, Israel ist nun weltweit das Land mit den meisten Lockdown-Tagen.

Im Heim wurde die zweite Impfdosis am 22. Januar verabreicht. Aber die offenen Fragen beim Impfschutz sind noch so zahlreich, dass die Restriktionen nur sehr zögerlich zurückgenommen werden.

Die Anzahl der schweren Erkrankungen lag Mitte und Ende Januar knapp 50 Prozent über den als Belastungsgrenze angegebenen 800 Fällen. Berichte aus Krankenhäusern zeugen von der völligen Überlastung des Pflegepersonals auf den Coronastationen. Überdies haben etwa 150 000 Israelis während des dritten Lockdowns ihre Arbeit verloren. Die Erwerbslosenrate liegt bei 16 Prozent, viermal so hoch wie im Februar 2020 kurz vor dem Ausbruch der Pandemie.

Das gravierendste Versäumnis in der Coronakrise ist die mangelnde Durchsetzung der Restriktionen bei den Ultraorthodoxen. Mehr als 50 000 Infektionen bei unter 17jährigen wurden seit Monatsbeginn registriert, fast doppelt so viele wie während der zweiten Welle. Während in allen säkularen Städten die Schulen geschlossen waren, blieben in ultraorthodoxen Städten trotz der extrem hohen Infektionszahlen viele der staatlich subventionierten Religionsschulen geöffnet. Zudem feierten Ultraorthodoxe trotz des Lockdowns und des Verbots von Zusammenkünften auch Hochzeiten mit Hunderten Gästen ohne Masken.

Statt gegen die Missachtung der Restriktionen auf dem Amtsweg vorzugehen, wandte sich Netanyahu nach eigenen Angaben an den Enkel Chaim Kanievskys, des bedeutendsten charedischen Rabbiners, da dieser selbst nicht erreichbar gewesen sei – mit der Bitte, sein Großvater möge verfügen, dass die Charedim sich an die staatlichen Vorgaben halten. Das tat Chaim Kanievsky nicht. Als sich die israelische Satiresendung »Eretz Nehederet« der Herausforderung annahm, dies noch zu karikieren, brach unter Ultraorthodoxen umgehend ein Sturm der Entrüstung los. Die Ansicht Kanievskys, Religionsschulen seien lebensnotwendige Einrichtungen, teilt auch die große chassidische Vishnitz-Strömung.

Als es Ende Januar schließlich doch zum Konflikt mit der Polizei kam, die gegen die Öffnung von religiösen Bildungseinrichtungen vorgehen wollte, kam es in der ultraorthodox dominierten Stadt Bnei Brak und in den ultraorthodox geprägten Vierteln Jerusalems zu schweren Ausschreitungen. Ein brennender Linienbus in Bnei Brak wurde zum Symbolbild. In mehreren Fällen wäre es fast zu Lynchmorden gekommen. Viele Israelis fordern eine spürbare Anhebung der Strafen bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Pandemiemaßnahmen, um die Schließung der Schulen zu erzwingen. Netanyahu beugte sich jedoch dem Willen seiner politischen Partner, der ultraorthodoxen Parteien, doch diese Haltung ist bei den Wählern unpopulär. In einer Umfrage des Fernsehsenders Channel 12 sprachen sich 61 Prozent, unter den rechten Wählern 52 Prozent der Befragten gegen eine Regierungsbeteiligung der ultraorthodoxen Parteien aus.

Der Erfolg von Netanyahus Wahlkampf hängt nun nicht zuletzt vom Ausgang des Wettlaufs zwischen Infektionsgeschehen und Impfquote ab. Den Erfolg der Impfkampagne verdankt der Ministerpräsident vor allem der effizienten Arbeit der Krankenkassen. Diese betreiben überall im Land kleine Kliniken, in denen die Hausärzte und Schwestern arbeiten und denen Apotheken angegliedert sind. Diese Kliniken sind die ersten Anlaufstellen für Kranke, und dort werden die Überweisungen an Fachärzte ausgestellt, die meist in den größeren medizinischen Zentren der Krankenkassen sitzen. Der Impfstoff wird an die Krankenkasse geliefert, die ihn auch verabreicht, ohne dass diverse Bürokratien koordiniert werden müssen. Die vollständig digitalisierten Krankenakten machen die Impfterminvergabe zudem sehr einfach. Auf der Seite der Krankenkasse Clalit etwa muss dafür nur die Identifikationsnummer und das Geburtsjahr eingetragen werden. Dann stehen mehrere Termine zur Auswahl, einer bereits am nächsten Tag.

Seit dem bisherigen Höchststand bei den Neuinfektionen Mitte Januar hat sich die Situation landesweit etwas gebessert. Doch es ist unklar, ob diese Entwicklung anhält, denn dem Fortschritt der Impfkampagne stehen weiterhin eine inkonsistente Politik der Pandemiebekämpfung und die fortdauernde Missachtung der Restriktionen vor allem seitens der Ultraorthodoxen gegenüber.