DDR-Sportfunktionäre unterhielten Kontakte zu ehemaligen HJ-Mitgliedern

Gemeinsam gegen den Ami

Die Führung der DDR versuchte in den Fünfzigern, im Sport Verbindungen in den Westen aufzubauen. Dabei scheute sie Kontakte zu ehemaligen Funktionären der Hitler-Jugend nicht. Zweiter und letzter Teil.

»Eure früheren aktiven HJ-Führer sind heute meine besten Funktionäre. Wer früher in der HJ aktiv war, ist heute auch bei uns aktiv. Wir haben das Gute von euch übernommen und es weiter ausgebaut.« Glaubt man den Angaben von Wilhelm Jurzek, die der Spiegel im Jahr 1951 veröffentlichte, dann stammen diese Aussagen über die vermeintlich positiven Seiten der nationalsozialistischen Hitler-Jugend (HJ) von Erich Honecker. Zum antifaschistischen Selbstverständnis der DDR, wie es die Staatsführung propagierte, passen sie nicht recht.

Anfang 1951, zu einem Zeitpunkt, an dem über 3 500 Juden in der sowjetischen Besatzungszone um die Restitution ihres Vermögens und die politische Anerkennung der von den Nationalsozialisten an ihnen verübten Verbrechen kämpften, fanden die ersten gesamtdeutschen Verhandlungen zwischen Funktionären der Freien Deutschen Jugend (FDJ), zu denen Honecker als damaliger FDJ-Vorsitzender gehörte, und ehemaligen HJ-Mitgliedern um Jurzek in Berlin-Wedding statt. Weitere Gespräche folgten. Wie war es zu ihnen gekommen und warum war die Rolle des Sports für sie besonders wichtig?

Im Zuge der Debatte über die Westbindung und Wiederbewaffnung der gerade erst gegründeten Bundesrepublik wuchs die Angst der FDJ- und ehemaligen HJ-Funktionäre vor einem deutsch-deutschen »Bruderkrieg«.

Im Zuge der Debatte über die Westbindung und Wiederbewaffnung der gerade erst gegründeten Bundesrepublik wuchs die Angst der FDJ- und ehemaligen HJ-Funktionäre vor einem deutsch-deutschen »Bruderkrieg«. Der SED-Kader Honecker begrüßte im Vorwort einer Broschüre des Kreises ehemaliger HJ-Mitglieder um Jurzek, dass »solche Menschen, die früher Mitglieder und Führer der Hitler-Jugend waren, heute erkennen, dass der Weg Trumans, Adenauers und Schumachers Deutschland ins Verderben führt«. Der westdeutsche Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) hielt nichts von den gesamtdeutschen Verhandlungen und kam der Bitte der ehemaligen HJ-Mitglieder, bei ihm vorsprechen zu dürfen, nicht nach. In einem Artikel des Spiegels von 1951 heißt es dazu: »Bundespräsident Heuss lehnte die persönliche Unterredung ab: HJ-Führer seien für ihn völlig fremde Menschen. Er könne sich mit ihnen nicht unterhalten.«

Während in der DDR im Zuge der Entnazifizierung öffentlichkeitswirksame Prozesse gegen nationalsozialistische Täter angestrengt und Angeklagte zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, stellte es für Otto Grotewohl als Ministerpräsidenten der DDR offenbar keinen Widerspruch dar, elf ehemalige HJ-Funktionäre aus Westdeutschland, unter ihnen der ehemalige HJ-Oberbannführer Jurzek, einzuladen, um über »praktische Möglichkeiten« zu beraten, die »verhindern, dass Deutsche gegen Deutsche stehen«, wie Roland Bach in seiner Quellenarbeit »›Deutsche an einen Tisch!‹: Versuche gesamtdeutscher Verständigung 1950/1951; dargestellt am Beispiel der Gespräche der FDJ – ehemalige HJ-Führer und gesamtdeutscher Sportgespräche« schildert.

Die erste Begegnung, an der auch Honecker teilnahm, fand am 29. und 30. Januar 1951 in der evangelischen Kirche in der Seestraße in Berlin-Wedding statt. Die Sorge um die Lösung der »deutschen Frage« trieb die FDJ- und die ehemaligen HJ-Funktionäre gleichermaßen um. Doch ganz am Anfang des Gesprächs, noch bevor sich die Teilnehmer über Fragen der praktischen Jugendarbeit, Kultur und Wirtschaft austauschten, ging es schwerpunktmäßig um den Sport – ein Thema, bei dem es kaum inhaltliche Differenzen zwischen den Dele­gationen gab. »Das Gute«, das Honecker an der HJ gelobt habe, sei ­ins­besondere die »einheitliche Ausrichtung der Jugend, körperliche ­Ertüchtigung und Reichsberufswettkampf (heute Leistungswettbewerb der Jungaktivisten)« gewesen, sagte Jurzek 1951 dem Spiegel.

Vor dem Treffen hatte es zwar auch innerhalb der Delegationen Bedenken gegeben. Diese konnten jedoch ausgeräumt werden. Die Gespräche seien, so zitiert Roland Bach den ehemaligen HJ-Führer Jurzek, wichtig gewesen, »damit nicht noch einmal die Substanz unseres Volkes in einem dritten Weltkrieg restlos vernichtet« werde. Es seien die Gemeinsamkeiten betont worden, um eine »Vereinigung aller patriotischen Kräfte des Vaterlandes« voranzutreiben und »mit allen jungen Menschen, die in Einheit und Frieden leben wollten«, die »deutsche Frage« zu beraten. Die westdeutsche Delegation verfolgte die Ausführungen über den Ausbau des Massensports, die Finanzierung von Sportstätten und das Zusammenbringen von Sportstrukturen aus Ost und West mit großer Spannung. Jurzek zeigte sich »optimistisch, dass es nach der Rückkehr in Westdeutschland möglich sein werde, sich mit entscheidenden Männern des Sports an einen Tisch zu setzen«.

In der Nähe »entscheidender Männer« hatte sich Jurzek bereits zur Zeit des Nationalsozialismus befunden. Er hatte während des Zweiten Weltkriegs einen administrativen Posten im »Generalgouvernement Polen« übernommen, wo die Nazis besonders wüteten. Sie zerstörten Warschau fast vollständig, verübten schwere Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung und löschten Juden und Roma aus.

Das erste Treffen war der Auftakt für weitere deutsch-deutsche Sport­gespräche in den fünfziger Jahren und den darauffolgenden langjährigen Kampf für ein gesamtdeutsches Olympisches Komitee bis in die sechziger Jahre. Bach zufolge sollten ausdrücklich deutsche Sportler aus Ost und West an einen Tisch gebracht werden. Deshalb verschickte der Deutsche Sportausschuss, eine Dachorganisation, die von der FDJ getragen wurde, im Zuge der Wintersportmeisterschaften in Oberhof 1951 über 1 000 Einladungen an die westdeutschen Sportverbände. Mehrere Hundert bundesrepublikanische Sportler nahmen die Einladung an, etwa 200 von ihnen lauschten der Eröffnungsrede Grotewohls. Darin sagte der Ministerpräsident der DDR Bach zufolge, jeder Sportler sei ein Kämpfer für den Frieden.

Während der Wintersportmeisterschaften hielt auch Walter Ulbricht, der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, eine Rede, der über 100 westdeutsche Sportler beiwohnten. Bach zitiert Ulbricht mit den Worten: »Zunächst müssen wir verhindern, dass die Amerikaner den Krieg provozieren.« Dafür gab es großen Beifall von den ost- und westdeutschen Spitzensportlern.

Die westdeutschen Delegationen wurden, von der DDR-Führung subventioniert, kostenlos untergebracht. Nach den Wettkämpfen sollte ein Austausch zwischen den Spitzensportlern aus beiden deutschen Staaten stattfinden. Ein anderer Vorfall während der DDR-Wintersportmeisterschaften 1951 zeigt die antiamerikanische Grundstimmung der Athleten. Als US-Soldaten der Verbindungsmission, die damals noch zu Kontrollfahrten in der DDR befugt waren, in einem Oberhofer Hotel auftauchten, stimmten die westdeutschen Sportler den Slogan »Ami, go home« an.

Die »jungen Freunde aus Westdeutschland«, die, wie es der Zentralrat der FDJ ausdrückte, »vor 1945 ­einen falschen politischen Weg« beschritten hätten, formulierten mit Blick auf die damalige politische Situation ähnliche Ziele wie die SED-Vorfeldorganisation: Ablehnung der Remilitarisierung und der als Kriegsvorbereitung interpretierten West­integration der Bundesrepublik sowie die Erhaltung des Friedens. Als ideologischer Kitt zwischen ehemaligen HJ-Mitgliedern und FDJ-Funk­tionären sowie zwischen den west- und ostdeutschen Athleten fungierten das antiamerikanische Ressentiment und die Begeisterung für die sportliche Leistungssteigerung, die in totalitären Massenorganisationen möglich sei.

Die SED nutzte auch den Sport, um die deutsche Frage in ihrem Sinne zu lösen. So sollte über das Vehikel einer einheitlichen Sportbewegung das »deutsche Vaterland« geeint werden. Die Berliner und Oberhofer Gespräche 1951 wurden, das zeigen die Beteiligung und die Initiativen Honeckers, Ulbrichts und Grotewohls, von ganz oben angeordnet und weidlich genutzt. Dass die SED-­Führung ehemalige HJ-Funktionäre wie Jurzek als gleichberechtigte Gesprächspartner ansah, zeigt, dass der Antifaschismus der DDR alles an­dere als konsequent war.