Postkoloniale Gruppen kritisieren ein vom Bund protegiertes Demokratieprojekt

Demokratieerinnerung im Selbstexperiment

Ein mit Bundesmitteln finanziertes Projekt zur Demokratiegeschichte hat die Kritik postkolonialer Gruppen auf sich gezogen.

Was haben der frühere bayerische Ministerpräsident und Oberleutnant der Wehrmacht, Franz Josef Strauß (CSU), die antifaschistische Schriftstellerin Erika Mann, der jüdische Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld und die afrodeutsche Dichterin May Ayim gemeinsam? Alle vier zählen zu den »100 Köpfen der Demokratie«, die die Arbeitsgemeinschaft (AG) »Orte der Demokratiegeschichte« seit vergangenem Herbst auf ihrer Website vorstellt.

Die 2017 gegründete AG hat sich zum Ziel gesetzt, die »Wahrnehmung der deutschen Demokratie- und Freiheitsgeschichte lokal, regional und deutschlandweit zu fördern und darüber demokratische Teilhabe und Zivilcourage anzuregen«. Schließlich seien Grund- und Menschenrechte nicht selbstverständlich gegeben und müssten immer wieder aufs Neue erkämpft und verteidigt werden. Das Projekt soll Männer und Frauen würdigen, die sich im Zeitraum von 1789 bis 2000 »für die Demokratie in ihren verschiedenen Formen, für die Verwirklichung von Partizipation möglichst breiter Kreise der Bevölkerung eingesetzt haben«. Zu diesem Zweck finden sich unter jedem Foto eine kurze biographische Angabe und Verweise auf weiterführende Lite­ratur und Informationen. Auf einer interaktiven Deutschland-Karte kann man sich zudem über historische Orte informieren, in Kiel zum Beispiel über den Matrosenaufstand vom 3. November 1918, der das Ende des Deutschen Kaiserreichs einläutete. Aufgezeigt werden soll, wie sich Forderungen nach freien, gleichen und allgemeinen Wahlen, nach Gewaltenteilung, Pressefreiheit und anderen Bürgerrechten im historischen Prozess entwickelt haben.

Im Gespräch mit der Jungle World sagte der Leiter Markus Lang, dass derzeit auch Plaketten mit einem QR-Code an den jeweiligen Orten angebracht werden, mit deren Hilfe Besucher auf die Informationsplattform zugreifen können. Mit Absicht gebe es keine Texttafeln, da sich die Informationen wandelten. »Es ist nichts, was in Eisen gegossen wird, alles ist flexibel«, so der Politikwissenschaftler. In der AG versammeln sich rund 60 Institutionen und Verbände: das Deutsche Historische Museum in Berlin, das Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart, die Otto-von-Bismarck-Stiftung, der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands, die Stiftungen der politischen Parteien der CDU, SPD, Grünen und FDP sowie weitere Archive, Städte, Stiftungen und lokale Museen.

Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM), Monika Grütters (CDU), finanziert das Projekt mit Mitteln des Deutschen Bundestags und plant wei­tere Investitionen, um die Auseinandersetzung mit der deutschen Demokratiegeschichte dauerhaft zu fördern. »Beabsichtigt ist, das Engagement des Bundes in diesem Bereich zeitnah durch die Errichtung einer Bundesstiftung ›Orte der deutschen Demokratiegeschichte‹ zu koordinieren und zu bündeln«, sagte ein Sprecher der BKM auf Anfrage der Jungle World. Ein entsprechendes Konzept werde derzeit vorbereitet.

In der vorigen Woche kritisierten postkoloniale Initiativen wie die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) das Projekt in einem offenen Brief, der sich an Grütters wandte. »Das Projekt ist in seiner jetzigen Ausgestaltung und Umsetzung inakzeptabel und stellt einen weiteren Beleg dar, wie ausschließend die aktuelle Geschichtsschreibung ist«, sagt Tahir Della, Sprecher der ISD, in einer Pressemitteilung. Das Projekt zeuge von einer »deutschzentrierten Erinnerungspolitik« und »postkolonialen Amnesie« unter den Projektverantwortlichen, heißt es darin weiter. Als ein Beispiel von mehreren würde der Text über die Frankfurter Paulskirche, 1848 Tagungsort der verfassungsgebenden Nationalversammlung, ausblenden, dass der Ort verbunden sei mit dem »expansionistischen und kolonialismusfreundlichen politischen Grundkonsens der großbürgerlichen und adligen Teilnehmenden aus Politik und Kaufmannschaft«. Die Paulskirche müsse daher auch als »Gründungsort und Gründungsmoment der deutschen Kolonialgeschichte verstanden werden«, heißt es im Brief. Auch rassistische Aspekte in den Biographien würden nicht thema­tisiert. Beispielsweise werde der Arzt Rudolf Virchow als medizinischer Ethiker für Gleichstellung präsentiert. Un­erwähnt blieben seine kolonialmedizinischen Menschenversuche, seine rassistischen Schädelvermessungen und sein Sammeln geraubter menschlicher Überreste aus vielen Ländern der Welt.

In dem offenen Brief kritisiert die ­Initiative außerdem die »ungefragte Aneignung jüdischer Biographien« bei gleichzeitiger Abwesenheit jüdischer Stiftungen und Kulturinstitutionen in der AG. Des Weiteren fordert der Brief sowohl eine quotierte Thematisierung von Personen mit Migrationsbiographie als auch eine diverse Besetzung der AG, die als ein »rein weiß gelesenes Gremium« den selbstgesteckten Zielen der Teilhabe und Zivilcourage »wohl kaum« entspräche. Dabei geht es um die Frage, wer die Geschichte definieren dürfe. »Nicht nur müssen die ›Orte der Demokratiegeschichte‹ und die ›Köpfe der Demokratie‹ unsere postmigrantische Gesellschaft, ihren Widerstand ­gegen das koloniale Unrecht und ihren positiven Beitrag zur deutschen Geschichte abbilden. Ebenso muss sich die Teilhabe der postmigrantischen Communities in den Projektstrukturen und -gremien widerspiegeln«, sagte Della.

Da das Projekt auf seiner Website zu Widerspruch und Debatte aufruft, dürfte der Brief als Ausdruck der ­gewünschten Auseinandersetzung verstanden werden. Zugleich verweist die Kritik der Gruppen aber auf die immer noch bestehenden Defizite in einem millionenschweren Bundesprojekt, das postkolonialen Debatten wenig Platz einräumt. Daher gerät die Website, die Demokratiegeschichte abbilden und vermitteln möchte, selbst zum Gegenstand einer Demokratiedebatte.