Bolsonaro und das Supervirus
Am Dienstag vergangener Woche hatte Brasilien erneut einen traurigen Rekord zu beklagen: 3 51 Menschen sind in dem Land binnen 24 Stunden an Covid-19 gestorben. Bisher wurden nur in den USA – die gut eineinhalb mal so viele Einwohner haben wie Brasilien – mehr als 3 00 Covid-Tote an einem Tag gemeldet. Brasilien ist seit Sommer 2020 ein Zentrum der Pandemie. Über 300 00 Menschen sind dort bereits an Covid-19 gestorben. In São Paulo, dem reichsten Bundesstaat mit dem dichtesten Netz an privaten und öffentlichen Krankenhäusern, sind praktisch keine Intensivbetten mehr frei. In einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Datafolha gaben 79 Prozent der befragten Brasilianer an, sie glaubten, die Pandemie sei in Brasilien außer Kontrolle.
Am selben Tag, an dem zum ersten Mal mehr als 3 00 Covid-19-Tote gemeldet wurden, sagte Brasiliens Präsident, Jair M. Bolsonaro, in einer Fernsehansprache: »Zu keinem Zeitpunkt hat es die Regierung unterlassen, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um sowohl das Coronavirus als auch das wirtschaftliche Chaos zu bekämpfen.« Diese Lüge ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. In zahllosen öffentlichen Einlassungen hat Bolsonaro seit Beginn der Pandemie die Gefährlichkeit des Erregers Sars-CoV-2 heruntergespielt: Es handele sich nur um eine »kleine Grippe«; die Bevölkerung solle aufhören, »sich wie kleine Schwuchteln« zu gerieren, so Bolsonaro. Er führte eine Kampagne gegen die social distancing-Maßnahmen der Bundesstaaten und kümmerte sich nicht einmal zum Schein um angemessene finanzielle Hilfen für die höchst gefährdeten arbeitenden Armen, die es sich nicht leisten können, zu Hause zu bleiben. Die Möglichkeit eines landesweiten Lockdowns hat Bolsonaro nie auch nur in Erwägung gezogen.
Deshalb ist er auch mit seinen – infolge dessen rasch wechselnden – Gesundheitsministern aneinandergeraten: Am 16. ärz wurde mit dem General Eduardo Pazuello bereits der vierte Gesundheitsminister seit Bolsonaros Amtsantritt eingeschworen. Dessen Amtsvorgänger hatten sämtlich nach Streitigkeiten mit dem Präsidenten ihr Amt aufgegeben.
Datafolha zufolge sehen inzwischen 43 Prozent der Bevölkerung Bolsonaro als Hauptschuldigen für die desaströse gesundheitliche Lage im Land, nur noch 22 Prozent heißen dessen Regierungsführung gut. Ohne Zweifel trifft Bolsonaro direkte Verantwortung für die katastrophale Situation. Ein frühzeitiges Angebot von Pfizer über die Lieferung von 70 Millionen Impfdosen hatte er im September vergangenen Jahres abgelehnt. Immer wieder zog er öffentlich die Sicherheit von Impfungen in Zweifel, im Dezember polemisierte er gegen das Vakzin von Pfizer/Biontech: »Wenn du dich in einen Kaiman verwandelst, ist es dein Problem.« Aus diesem Grund läuft die Impfkampagne in Brasilien extrem langsam, gerade einmal sechs Prozent der Bevölkerung haben eine Impfdosis erhalten.
Diese Nachlässigkeit könnte im schlimmsten Fall globale Folgen haben. Im Norden des Landes ist mit der Sars-CoV-2-Variante P.1 eine Mutation des Virus aufgetreten, die nicht nur infektiöser und gefährlicher ist, sondern ersten Studien zufolge auch schlechter von Antikörpern des menschlichen Immunsystems bekämpft werden kann. In der gegenwärtigen Situation, in der nur ein geringer Teil der Bevölkerung geimpft ist, befürchten Virologen die Mutation von P.1 zu einem »Supervirus«, gegen das die vorhandenen Impfstoffe nicht schützen. Bolsonaros Gleichgültigkeit und Ignoranz gefährden nicht nur die Bevölkerung Brasiliens, sondern die der ganzen Welt.