Der alte Mann und das Öl
Es ist Wahltag in der Diktatur, und der wichtigste Oppositionskandidat verstirbt am Tag danach. Sein letztes Wahlkampftreffen hatte er absagen müssen. Dieses Szenario klingt nach einem schlechten Drehbuch – zum Beispiel nach dem eines Regimes, das nicht sonderlich viele internationale Rücksichten zu nehmen braucht.
Doch hier war nicht der russische Präsident Wladimir Putin am Werk, sondern Denis Sassou-Nguesso, der Präsident der Republik Kongo, und allem Anschein nach war der Tod seines wichtigsten Rivalen, Guy Brice Parfait Kolélas von der Union der humanistischen Demokraten, am 23. März tatsächlich auf eine Erkrankung zurückzuführen. Eine Obduktion durch die eigens dafür eingeschaltete französische Justiz kam jedenfalls am darauffolgenden Tag zum Ergebnis, die Lungen des Oppositionspolitikers, der seine letzten Stunden in Paris verlebte, seien derart angegriffen gewesen, dass es plausibel erscheine, der 61jährige sei an Covid-19 erkrankt und auch verstorben.
Sassou-Nguesso hatte ein derartiges Wissen über Vorgänge hinter den Kulissen der französischen Politik, dass er seinerseits französische Staatsrepräsentanten erpressen konnte.
In Brazzaville, der Hauptstadt der Republik Kongo, wurden unterdessen ungewohnt schnell, innerhalb von 24 Stunden, die offiziellen Wahlergebnisse verkündet. Auch wenn die Republik Kongo nur rund fünf Millionen Einwohner zählt, ist ein solches Tempo in dem dünn besiedelten Land außergewöhnlich. Es gab kaum Wahlbeobachter, aber zahlreiche Hinweise auf Manipulationen. Oppositionelle zweifeln das offiziell Ergebnis an. Diesem zufolge erhielt ein Verbündeter des verstorbenen Kolélas, der Oppositionelle Jean-Jacques Yhombi-Opango, 7,8 Prozent der abgegebenen Stimmen. Der drittplatzierte Bewerber, Mathias Dzon, erzielte den offiziellen Zahlen zufolge 1,9 Prozent.
Mehr als 88 Prozent des Stimmen, strich hingegen der »alte Löwe« ein, der Staatschef Denis Sassou-Nguesso, 77 Jahre alt und insgesamt 37 Jahre an der Macht. In der langjährigen Periode seiner Machtausübung seit seinem ersten Amtsantritt 1979 gab es nur eine wirkliche Unterbrechung, und zwar zwischen 1992 und 1997. In der Phase der Demokratisierung, die das französischsprachige Afrika kurz nach dem Zusammenbruch des Ostblocks durchzog und die mit Massenprotesten einherging, war 1992 sein Herausforderer Pascal Lissouba zum Präsidenten gewählt worden. Auch Lissouba war zwar der früheren Kolonialmacht Frankreich nicht feindlich gesinnt – er starb im Oktober 2020 in Südfrankreich –, er wollte jedoch den Anteil des kongolesischen Staats an den Erdöleinnahmen von zuvor 17 auf 35 Prozent erhöhen. Dies verzieh ihm unter anderem der französische Erdölkonzern Elf nicht, der Vorgänger des heutigen stärksten börsennotierten französischen Unternehmens Total. An dessen Sitz in La Défense wurde 1997 ein eigener Krisenstab zur Republik Kongo eingerichtet.
Dort putschte sich im selben Jahr Sassou-Nguesso zurück an die Macht, was einen Bürgerkrieg auslöste, der bis ins folgende Jahr andauerte. Die bewaffneten Milizen der »Ninjas« auf der einen, der »Kobras« auf der anderen Seite bekämpften sich ohne Rücksicht auf Verluste unter der Zivilbevölkerung, Wohnviertel von Brazzaville wurden bombardiert. Mindestens 40 00 Menschen kamen zu Tode. Danach hielt Sassou-Nguesso für lange Jahr die Zügel straff in der Hand.
Ursprünglich trat er, jedenfalls dem politischen Anspruch nach, nicht als Sachwalter neokolonialer französischer Staats- oder Konzerninteressen auf, sondern mit einer antikolonial klingenden Rhetorik. Die Republik Kongo regierte bei seinem Machtantritt seit zehn Jahren die sich formal zum Marxismus-Leninismus bekennende, prosowjetische Kongolesische Partei der Arbeit (PCT). Noch heute heißt die Regierungs- und de facto Staatspartei so, mit den Prinzipien der damaligen Zeit hat sie jedoch nur noch wenig gemein.
Damals verfügte die Partei noch über zahlreiche sogenannte Massenorganisationen: eine Staatsgewerkschaft für Arbeiter, eine Studierendenorganisation, einen Frauenverband et cetera. Zwischen diesen und dem Parteiapparat fanden zeitweilig heftige Auseinandersetzungen und ideologische Debatten statt, in denen teils echte Differenzen zum Ausdruck kamen. Doch in den späten siebziger Jahren setzten sich innerparteilich die Offiziere durch, schoben die Parteiintellektuellen zur Seite und setzten ihren Mann, Sassou-Nguesso, an die Spitze. Das Regime behielt seine Anbindung an den sowjetischen Block zwar noch bis in die achtziger Jahre bei und spielte in international beispielsweise eine Rolle bei der Denunziation des prowestlichen, rassistischen Apartheid-Regimes in Südafrika. Unter der Hand jedoch vollzog sich längst eine Annäherung an Frankreich.
Spätestens seit seiner Rückkehr an die Macht 1997/1998 galt Sassou-Nguesso in weiten Teilen Afrikas als Statthalter des Netzwerks neokolonialer Interessen, das weithin unter dem Namen »Françafrique« bekannt wurde. Das 1998 erschienene gleichnamige Buch des NGO-Aktivisten und Schriftstellers François-Xavier Verschave räumte unter anderem den damaligen Ereignissen in dem erdölreichen zentralafrikanischen Staat breiten Raum ein.
In der Praxis waren die Beziehungen allerdings komplex. Sassou-Nguesso war keine Marionette, da der Autokrat – wie Omar Bongo, der 42 Jahre lang bis zu seinem Tod amtierende Präsident des benachbarten Ölförderstaats Gabun – ein derartiges Wissen über Vorgänge hinter den Kulissen der französischen Politik und Ökonomie und etwa auch über illegale Parteienfinanzierung hatte, dass er seinerseits französische Staatsrepräsentanten bis zu einem gewissen Grad erpressen konnte. Überdies begann er in den nuller Jahren, sich auch auf das chinesische Regime zu stützen, das nach wachsendem Einfluss in Afrika strebte, um seine Rohstoffinteressen abzusichern. Wiederholt versuchte er, China und Frankreich gegeneinander auszuspielen, um seine eigenen Spielräume zu erweitern.
2007 begann in Paris der konservative Staatspräsident Nicolas Sarkozy zu regieren, der zwar einerseits für eine offensive und skrupellose französische Machtpolitik eintrat, andererseits jedoch eine Zeitlang die These vertrat, die neokolonialen Netzwerke in der Politik des Landes verkörperten »alte Zöpfe«, die man getrost abschneiden könne. Solche Strukturen der organisierten Korruption und der Kumpanei mit Diktatoren und den sie umgebenden Cliquen zu unterhalten, koste auf Dauer mehr Geld, als es einbringe – eine nüchtern an ökonomischen Imperativen orientierte Politik sei viel effizienter.
Die Wirklichkeit auf dem afrikanischen Kontinent belehrte ihn alsbald eines Besseren, wurde ihm doch klar, dass ein Verzicht auf die alten Einflusskanäle mit einem internationalen Bedeutungsverlust Frankreichs einhergehen würde, weil man zu lange über solche Stützen Einfluss genommen hatte. Sarkozys liberaler Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Jean-Marie Bockel, musste diese Erkenntnis mit einem Posten bezahlen: Er hatte sich in seinen Neujahrswünschen 2008 kritisch über solche alten Potentaten wie Sassou-Nguesso und Bongo geäußert. Sarkozy drängte ihn aus dem Amt, Bockels Nachfolger Alain Joyandet reiste kurz darauf zum Amtsbesuch zu Sassou-Nguessos Verbündetem Bongo. »Françafrique« hatte gesiegt.
Auch in der Republik Kongo konnten sich die alten Mächte in den vergangenen Jahren noch einmal durchsetzen. Vor der Präsidentschaftswahl 2016 schien das Regime zeitweilig zu wanken, nachdem es im September 2015 zu Massenprotesten gekommen war. Diese richteten sich gegen eine Verfassungsänderung, die die Altersgrenze für den Präsidenten aufhob, um Sassou-Nguesso eine weitere Amtszeit zu ermöglichen. Bei der jüngsten Wahl hingegen war seine Macht nicht ernsthaft bedroht, auch wenn es letztlich die Pandemie war, die ihm einen lästigen Herausforderer vom Hals schaffte.