Kritik an Michael Rothbergs Studie »Multidirektionale Erinnerung«

»Lockerung der Verengungen«

Die Rede von der Singularität des Holocaust schaffe »Opferkonkurrenz« und »Aufmerksamkeitskonflikte«: Michael Rothberg fordert in seinem Buch »Multidirektionale Erinnerung« ein neues Gedenken ein. Ein Vorbild findet er in den Debatten der fünfziger und sechziger Jahre. Das Wissen um die Besonderheiten der Judenvernichtung steht dabei im Wege.

1952 hielt der schwarze Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois in New York City eine vielbeachtete Rede. Die kommunistische Zeitschrift Jewish Life hatte ihn aus Anlass des neunten Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto eingeladen. In seinem Vortrag revidierte Du Bois sein Diktum, ­wonach das zentrale »Problem des 20. Jahrhunderts das Problem der ­color line«, der Grenze zwischen den Hautfarben, sei. Sein Blick auf die ­sogenannte Rassenfrage habe sich vor allem durch Besuche in Europa verändert.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg habe er von der Diskriminierung der Polen in den östlichen Provinzen des Deutschen Reichs und vom Antisemitismus erfahren. Entscheidend sei für ihn jedoch ein Besuch in dem von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstörten Warschau im Jahr 1949 gewesen. Bei der Niederschlagung des Ghettoaufstands hatten die Deutschen 1943 das jüdische Viertel dem Erdboden gleichgemacht. Als sich anderthalb Jahre später die polnische Heimatarmee erhob, legten sie die ganze Stadt in Schutt und Asche. Sein Aufenthalt in Warschau, so Du Bois, habe ihm gezeigt, dass das sogenannte Rassenproblem nicht allein entlang der color line existiere. Es gehe vielmehr »über die Grenzen von Hautfarbe und Körperbau und Glauben und Status hinweg«.

Rothberg holt theoriegeschichtlich weit aus, letztlich verbirgt sich hinter dem Begriff der Multidirektionalität jedoch kaum mehr als die Vorstellung, dass Erinnerungen an verschiedene Formen von Diskriminierung und Gewalt zusammengebracht werden können.

Für den US-amerikanischen Literaturwissenschaftler und Holocaustforscher Michael Rothberg ist diese Rede ein erinnerungspolitisches Schlüsseldokument. In seinem 2009 auf Englisch erschienenen Buch, das jetzt unter dem Titel »Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung« auf Deutsch erschienen ist, dient ihm die Perspektive des schwarzen Soziologen als Musterbeispiel für gerechtes Erinnern.

Die Auseinandersetzung mit der Rede Du Bois’ sei eine »konzeptionelle Inspiration« für seine Arbeit gewesen, bekennt er in einem Interview, mit dem das Buch eingeleitet wird. Erklärtes Ziel seiner Ausführungen ist es, »Opferkonkurrenz« und »Aufmerksamkeitskonflikte« zu vermeiden, wenn an begangene Verbrechen und durch sie erzeugtes Leid erinnert wird. Dazu sollen Querverweise und Analogiebildungen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus, Sklaverei und Holocaust beitragen.

Rothberg holt theoriegeschichtlich weit aus, letztlich verbirgt sich hinter dem Begriff der Multidirektionalität jedoch kaum mehr als die Vorstellung, dass Erinnerungen an verschiedene Formen von Diskriminierung und Gewalt zusammengebracht werden können. Multidirektionale Erinnerung könne dazu beitragen, solidarisch zu sein, gegenseitiges Verständnis zu wecken und die eigenen Positionen zu hinterfragen.

Zu Recht weist Rothberg zwar da­rauf hin, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den fünfziger und sechziger Jahren, einer Forschungsperiode, für die er sich besonders interessiert, oft mit der Kritik kolonialer Gewalt verbunden war. Ähnliches gilt auch für die Beschäftigung mit den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki. Das Nachdenken über die Vernichtung der europäischen Juden vermischte sich zum damaligen Zeitpunkt sowohl mit der Empörung über die Kolonialgräuel als auch mit Reaktionen auf den US-amerikanischen Einsatz von Atombomben. Autoren wie Charlotte Delbo, Frantz ­Fanon oder Jean Améry verwiesen in ihren Texten über die französischen Verbrechen im Algerien-Krieg wiederholt auf jüdische Erfahrungen; Günther Anders, Hans Magnus Enzensberger und andere sprachen in einem Atemzug von Auschwitz und Hiroshima.

Anders als Rothberg suggeriert, war die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den fünfziger und sechziger Jahren aber gerade nicht von Differenzierungen geprägt. Unter Berufung auf Du Bois will der Autor sein Konzept der Multidirektionalität nicht nur als Verweis auf Gemeinsamkeiten, sondern auch auf die Besonderheiten von Massenmord verstanden wissen. Von den Unterschieden und dem Spezifischen der Verbrechen war in der Hochphase des Kalten Kriegs jedoch nur selten die Rede – weder bei Enzensberger und Fanon noch bei Du Bois. Liest man dessen Rede, erscheint es schleierhaft, wie Rothberg zu dem Schluss kommen kann, dass Du Bois darin die »präzedenzlose Radikalität des Holocaust« anerkannt habe. Allenfalls ahnte Du Bois, dass die Deutschen das jüdische Ghetto Warschaus sehr viel gründlicher zerstörten als die übrige Stadt.

Insgesamt dominiert in der Rede die Verallgemeinerung. Die Diskriminierung der Schwarzen in den USA, die Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung und die Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstands versteht Du Bois als Ausdruck eines, wie es in einer von Rothberg nicht zitierten Passage heißt, »einzigen Verbrechens gegen die Zivilisation«. Aufgrund der Eindrücke von anderen Formen von Diskriminierung und Verfolgung mag Du Bois seine Einschätzung von der Dominanz der color line zurückgenommen haben; von der Einsicht in die Besonderheit des Holocaust war er jedoch weit entfernt.

Das erklärt sich weitgehend aus dem zeitlichen Kontext. So stammen Du Bois‘ Rede und viele der anderen Beispiele, die Rothberg bemüht, um sein Konzept der multidirektionalen Erinnerung zu erläutern, aus einer Zeit, in der den meisten Zeitgenossen noch nicht einmal der Unterschied zwischen Konzentrations- und Vernichtungslagern bekannt war. War unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Judenvernichtung eine gewisse Ahnung von der Dimension der Tat entstanden, wich diese mit dem Beginn des Kalten Kriegs wieder. Die drohende atomare Vernichtung legte sich wie ein Schleier vor die Vergangenheit: Wer keine Zukunft zu haben glaubt, setzt sich nicht mit den Verbrechen der Vergangenheit auseinander, sondern höchstens mit der Gegenwart.

Dennoch war die Erinnerung an den Holocaust auch in diesen Jahren nicht ausgelöscht. Der Massenmord war in verborgener Form präsent. Das Wissen darum heftete sich offen oder kodiert an Diskussionen über andere Verbrechen. Die Debatten boten vielen Überlebenden des Holocaust die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen zu sprechen, für die sich sonst kaum jemand interessierte.

Bisweilen gab es tatsächlich Verschränkungen zwischen nationalsozialistischen und kolonialen Verbrechen. In einer der interessantesten Passagen des Buchs verweist ­Rothberg auf Maurice Papon, der unter deutscher Besatzung für die Deportation französischer Juden zuständig war. Nach 1945 setzte er seine Karriere fort. Als Polizeipräfekt von Paris war Papon 1961 für ein Massaker verantwortlich: Er ließ die Polizei mit Waffengewalt gegen eine unangemeldete Demonstration von Algeriern vorgehen, etwa 200 von ihnen wurden erschossen, erschlagen, in der Seine ertränkt.

Wurde der Holocaust in den fünfziger und sechziger Jahren in Zusammenhang mit anderen Verbrechen thematisiert, wurde er diesen zumeist angeglichen. Das Sprechen über die Judenvernichtung erfolgte um den Preis des Absehens von ihren Besonderheiten. Auch dafür ist die Rede Du Bois’ ein aufschlussreiches Beispiel. Rothberg betont nicht ganz zu Unrecht, dass es in den USA der fünfziger Jahre vor allem das kommunistische Milieu war, das gelegentlich an den Holocaust erinnerte. Insbesondere in der Zeitung Jewish Life, die auch den Vortrag von Du Bois abdruckte, erschienen einige Artikel, die auf das Verbrechen hinwiesen. Allerdings vergisst Rothberg zu erwähnen, dass diese Texte zumeist den Aufstand im Warschauer Ghetto behandelten. Ebenso wie die Veranstaltung 1952 in New York, auf der Du Bois seine Rede hielt, befassten sich die Beiträge weniger mit der Vernichtung der Juden als mit dem jüdischen Widerstand. Es ging um die »Ehrung der Kämpfer des Warschauer Ghettos« – so lautete auch der Titel der Zusammenkunft anlässlich des neunten Jahrestags des Aufstands, zu dem die Zeitung Du Bois geladen hatte.

Für die Beschäftigung mit dem Widerstand gab es gute Gründe: So verträgt sich die Erinnerung selbst an den aussichtslosesten Kampf besser mit dem allgemeinen Empfinden als die Auseinandersetzung mit grundloser Vernichtung. Darüber hinaus schien die Geschichte des Kampfs sich leichter mit der Zukunft verbinden zu lassen, um die es bei der von Jewish Life ausgerichteten Veranstaltung letztlich ging. Der Herausgeber Louis Harap hatte Du Bois darum gebeten, in seiner Rede eine Anleitung »zum Handeln in diesen schwierigen Zeiten« zu geben. Der Bürgerrechtler endete darum mit einem Plädoyer für die Verhinderung von Kriegen, die Verbesserung der Bildung und die Demokratisierung der Wirtschaft.

Was Michael Rothberg als goldenes Zeitalter der multidirektionalen Erinnerung ausgibt, ist eine Epoche, in der sich das Wissen um die Präzedenzlosigkeit des Holocaust noch nicht durchgesetzt hatte. Die von ihm bemühten Beispiele aus der Hochphase der Dekolonisierung sind oft die Zwischenschritte eines wenig ­geradlinigen Erkenntnisprozesses. Das Verständnis der Besonderheit des Holocaust bildete sich über Jahrzehnte hinweg in Reflexion auf die Tat, aber auch in der Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen. Diese Dialoge, Konfrontationen und Austauschprozesse waren manchmal ­erkenntnisreich, oft führten sie in eine Sackgasse.

An der Erkenntnis der Besonderheit des Holocaust ist Rothberg jedoch nur bedingt gelegen. Ähnlich wie Du Bois geht es ihm vor allem um gegenwärtige und zukünftige Kämpfe. Auch wenn er am Rand von materi­eller Umverteilung spricht, zielt er dabei nicht einmal mehr auf soziale Gleichstellung, sondern auf Symbolik, Repräsentation und »Anerkennung« – eines seiner am häufigsten verwendeten Wörter. Letztlich geht es nicht um Erkenntnis, sondern um Identitätspolitik.

Leid dürfe nicht hierarchisiert werden, so Rothberg. Diese Haltung ist sicherlich ehrenwert; sie wird ­allerdings durch den Holocaust herausgefordert. Selbstverständlich wiegt der Tod eines Herero, der 1904 von deutschen Kolonialtruppen erschossen wurde, ebenso schwer wie der ­eines Juden, der 40 Jahre später von einem Soldaten der Wehrmacht ­ermordet wurde. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen den Massenverbrechen, in deren Rahmen beide Morde stattfanden. Anders als Rothberg es bisweilen nahelegt, ist die Rede von der Singularität des Holocaust keine rhetorische Figur, die dem Verbrechen untergeschoben wurde. In ihr drückt sich vielmehr die Besonderheit der Tat selbst aus.

Von dieser Besonderheit scheint eine Kränkung auszugehen. In dem Maß, in dem die Grenzen der instrumentellen Vernunft durch den ­Holocaust nicht, wie durch andere genozidale Verbrechen, bis zum ­Äußersten ausgedehnt, sondern überschritten wurden, traten – horribile dictu – auch die schrecklichsten Kolonialgräuel epistemisch in seinen Schatten. Auch deshalb wird die Erinnerung an die Vernichtung der ­europäischen Juden für viele postkoloniale Theoretiker zum Ärgernis. Die oft beklagte Opferkonkurrenz geht nicht nur auf den tatsächlichen Skandal zurück, dass Kolonialverbrechen lange kaum beachtet wurden, sondern schrecklicherweise auch auf die Dimension des Holocaust selbst, der sich instrumenteller Vernunft und ­rationaler Begründung, auch noch der allerzynischsten, entzieht.

Rothberg betont, dass Erinnerung kein moralisches »Nullsummenspiel« sei, bei dem die Anerkennung der einen Erinnerung notwendigerweise zulasten der Bedeutung der anderen geht. Das mag stimmen, doch ist Erinnerung auch kein Feld der unbegrenzten Möglichkeiten. Das öffentliche Interesse am Leid anderer ist ebenso wenig unerschöpflich wie die Bereitschaft zu Entschädigungszahlungen.

»Eine der größten Barrieren, die Menschen daran hindern, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen kollektiven Erinnerungen anzuerkennen, ist der Glaube, es handle sich bei der eigenen Geschichte, Kultur und Identität um etwas ›Eigenständiges und Einzigartiges‹«, heißt es im Buch. Erst wenn nicht mehr von der Singularität des Holocaust gesprochen werde, so legt Rothberg nahe, könne es ein gerechteres Gedenken geben. Das Wissen um die epistemischen Dimensionen der Vernichtung stört dabei. Wohl auch deshalb fordert der Autor eine »gewisse Lockerung der Verengungen«, die mit »Holocaustvergleichen verbunden« seien.

Was gemeint ist, führt er selbst vor, wenn er die – zweifellos entsetzliche – Folter von Gefangenen während des Irak-Kriegs kurzerhand zum »verstörenden Nachhall des Holocaust« erklärt. An solchen Vergleichen wird deutlich, dass der Holocaustforscher Unterscheidungsfähigkeit im Namen von Verständnis und ­Anerkennung durch eine diffuse Gleichheitsrhetorik ersetzt sehen will. Damit liefert er zugleich Stichworte für eine neue Form der Holocaustrelativierung.

Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Aus dem Englischen von Max Henninger. Metropol-Verlag, Berlin 2021. 404 Seiten, 26 Euro