Impfgegnerschaft und rechtsextreme Strömungen in der deutschen Ökobewegung

Grün-alternative Impfkritik

Der Fall eines ehemaligen Grünen-Politikers aus Baden-Württemberg zeigt, wie ein Impfgegner in der Partei Karriere machen konnte. Seine Positionen teilten viele, die an der Gründung der Partei beteiligt waren.

Der Parteiausschluss kam nicht überraschend: »Vorsätzlich« habe Andreas Roll gegen »die Satzung und Ordnung der Partei« verstoßen und ihr dadurch »schweren Schaden zugefügt«, hieß es im Beschluss des Landesschiedsgerichts der Grünen Baden-Württemberg Anfang Januar. Roll hatte in sozialen Medien immer wieder die Regelungen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in Frage gestellt und Politiker der Grünen verbal beleidigt. Dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann hatte er ­unter anderem vorgeworfen, sich an einer »faschistoiden Entwicklung« zu beteiligen. Was nach einem zügigen harten Schnitt klingt, zieht sich in Wahrheit schon lange hin. Der Fall Roll zeigt exemplarisch, wie lange ein Impfgegner und Gesundheitscoach, der die Ernährungsprinzipien von NS-Anhängern wie Werner Kollath und Max Otto Bruker propagiert, in der Partei aktiv sein konnte – und Karriere machte: Roll wurde Mitte der nuller Jahre in den Ortsvorstand Marbach gewählt, kandidierte 2009 und 2013 erfolglos für den Bundestag, war von 2010 bis 2012 Mitglied des Kreisvorstands Ludwigsburg und nach eigenen Angaben von 2012 bis 2014 Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheit der Grünen. Von September 2014 bis Juli 2019 war er zudem als Vertreter der Partei Mitglied im Aufsichtsrat der Regionalen Kliniken Holding (RKH) GmbH in Ludwigsburg. Dass Roll ein Impfgegner ist, kann den Grünen und seinen Wählern kaum unbekannt gewesen sein. Bereits 2003 hatte er im Selbstverlag ein erstes Buch über angebliche Impfschäden herausgebracht, in dem er einer Analyse des esoterikkritischen Portals ­Psiram zufolge viele noch immer verbreitete Mythen und Fälschungen als Fakten darstellte. 2017 verfasste er in einem nicht mehr online verfügbaren Artikel für die Marbacher Zeitung eine begeisterte Kritik des Films »Vaxxed«. Regisseur des Propaganda­streifens ist der in den USA lebende britische Impf­gegner Andrew Wakefield, dem in Großbritannien ­unter anderem wegen un­ethischer Forschungs­methoden die Approbation entzogen wurde. Dem Spiegel zufolge schrieb Roll über den Film unter anderem, dass er den »Zusammenhang zwischen der Impfung (gegen Masern, Mumps und Röteln, Anm. . ed.) und der ­Erkrankung Autismus« belege. Dabei handelt es sich um einen – vielfach ­widerlegten – Lieblingsmythos der Impfgegnerszene.

Das Fernsehmagazin »Kontraste« verwies darauf, dass Anthroposophen »im Ländle« vor allem von den Grünen hofiert würden.

Der Grünen-Ortsverband Marbach distanzierte sich zwar von Roll, zur ­Androhung tatsächlicher Konsequenzen kam es allerdings erst im März ­vorigen Jahres. Damals schrieb Roll den Stuttgarter Nachrichten zufolge auf ­seiner Facebook-Seite unter anderem, »der faschistoide Doktor Mengele« kehre zurück, »diesmal unter dem Pseudonym Jens Spahn«, und beleidigte auch Kretschmann.

Letzteres ist besonders vor dem Hintergrund einer Debatte über Impf­gegner sowie deren Motive und Verbindungen in rechte Verschwörungskreise interessant, die im Frühjahr 2019 geführt worden war. Damals stellte das ARD-Magazin »Kontraste« fest, dass es im sogenannten bürgerlich-alterna­tiven Milieu besonders viele Impfverweigerer gebe, speziell unter Anthroposophen, Heilpraktikern und Eltern von Waldorfschulkindern. Der Beitrag zitierte aus einem Merkblatt der Gesellschaft anthroposophischer Ärzte, in dem es unter anderem hieß: »Welchen Sinn kann es haben, dass ein Kind Masern bekommt?« Oder: »Aufmerksame Eltern erleben gerade bei den Masern oft eine tiefgreifende Reifung ihres Kindes.« Einer der Autoren des Merkblatts, so das Magazin, schreibe »dem Masernfieber wahre Heilkräfte zu«.

Baden-Württemberg wies 2019 bei Masern bundesweit die niedrigste Impfquote auf. Der damalige Ludwigsburger Kreisrat Roll kam in der Sendung ausführlich zu Wort. »Alternative Fakten aus dem alternativen Milieu«, so beschrieb das Magazin seine Äußerungen und verwies darauf, dass Anthroposophen »im Ländle« vor allem von den Grünen hofiert würden. Zum Beispiel von Kretschmann bei einem Besuch im Stuttgarter Rudolf-Steiner-Haus einige Wochen vor der Sendung. Wörtlich sagte der Ministerpräsident: »Rudolf Steiners Lebenswerk verdanken wir Impulse in fast allen Lebensbereichen.« Steiner begründete die Anthroposophie, er glaubte unter anderem auch an ominöse »Wurzelrassen«. Rolls Positionen waren jahrelang kein Hindernis für eine Karriere in der Partei. Vielen, die an der Gründung der Grünen beteiligt waren, teilten sie. Ökologie war in den Anfangsjahren der Bundesrepublik ein rechtes Thema, was in dem heutigen Nazislogan »Umweltschutz ist Heimatschutz« fortwirkt – genauso wie sogenannte vollwertige Ernährung, die bereits die NSDAP unter anderem mit einem »Reichsvollkornbrotausschuss« propagierte, der zur sogenannten Volksgesundheit bei­tragen sollte.

Bioläden gab es in der Nachkriegszeit noch nicht, dafür aber Reformhäuser, in denen unter anderem Produkte sowie Getreideerzeugnisse eines bayerischen NPD-Politikers angeboten wurden, die auf den Theorien des NS-Hygienikers Kollath beruhen; dieser hat übrigens auch das Wort »Vollwerternährung« erfunden. Kollaths Ernährungsideen wurden noch 2001 im Bioladen-Kundenmagazin Schrot und Korn gelobt, natürlich ohne Verweis auf seine NS-Karriere. Zu den von der Aussicht auf eine ökologische Partei begeisterten ehemaligen Nazifunktionären gehörte nicht nur der hinreichend bekannte Biobauer Baldur Springmann, der oft als eine Art rechtsextremer Einzelfall beschrieben wird, wenn es um die Geschichte der Grünen geht. Auch der 1999 verstorbene Werner Georg Haverbeck, dessen Witwe Ursula mehrfach wegen Holocaustleugnung verurteilt wurde und von 2018 bis 2020 im Gefängnis saß, wurde, hatte sich aktiv an den Plänen zur Gründung einer bundesweiten grünen Partei beteiligt. Er war 1928 in die SA eingetreten, hatte unter anderem für Rudolf Heß gearbeitet und war zunächst von Heinrich Himmler gefördert worden. Nach 1945 trat Haverbeck der Anthroposophischen Gesellschaft bei, 1963 gründete er das Studienwerk Collegium Humanum, trat 1967 eine Professur an der Fachhochschule in Bielefeld an. Er engagierte sich zudem an führender Stelle als sogenannter Lebensschützer.

Haverbeck wurde, wie der Historiker David Kriebernegg in seiner Diplom­arbeit »Braune Flecken der Grünen Bewegung« schreibt, »zu Beginn zum Dreh- und Angelpunkt der sich formierenden deutschen Grünen«. 1978 war er Mitinitiator eines Treffens in Vlotho, bei dem Einzelheiten der Kandidatur ­einer grünen Liste bei den Europawahlen Thema waren. Zu den Teilnehmern gehörten neben Herbert Gruhl auch Anthroposophen wie der Künstler Joseph Beuys und Vertreter der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell. Vertreter der sogenannten Bunten und Alterna­tiven Listen nahmen als Beobachter teil. Die damaligen Teilnehmer dürften auch die gemeinsame Ablehnung des American way of life, der Antisemitismus sowie eine gewisse Fortschrittsfeindlichkeit geeint haben. Die Überzeugungen derjenigen, die auf »Quer­denker«-Demonstrationen gegen angeblich von den USA und Israel gesteuerte finstere Machenschaften pro­testieren, hätten viele sicherlich geteilt. Eine gründliche Aufarbeitung dieses Kapitels der Geschichte der Grünen steht bereits sehr lange aus.