Die türkische Regierung hat den ­Alkoholverkauf befristet verboten

Die Türkei wird trocken

Vergangene Woche beschloss die türkische Regierung einen harten Lock­down. Auch der Verkauf von Alkohol wird vorübergehend verboten.

Mitte April meldete die Türkei mehr ­als 60 00 Neuinfektionen täglich. Seither sinken die Zahlen wieder, dennoch entschied der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass nun die Zeit zum Handeln gekommen sei. Am 29. April begann ein harter Lockdown. Schulen und Geschäfte wurden geschlossen, die Menschen dürfen nur noch mit triftigem Grund auf die Straße und brauchen eine Sondergenehmigung, um in eine andere Stadt zu reisen.

Für die Regierung erscheint das Timing günstig. Der Lockdown endet Mitte Mai, zur selben Zeit wie der Ramadan, es folgt das Zuckerfest quasi als Belohnung und danach kann die Türkei – inschallah – die Tourismussaison eröffnen. Auch sollten Kundgebungen am 1. Mai durch den Lockdown unterbunden werden, was jedoch wegen der Renitenz der Gewerkschaften nicht recht funktionierte. In Istanbul und Ankara wurden zahlreiche Demonstrantinnen und Demonstranten festgenommen.

Doch ein nicht ganz nebensächliches Detail hat viele verärgert. Erdoğan und sein Innenminister Süleyman Soylu verkündeten auch ein Verkaufsverbot für Alkohol während des Lockdowns. Nun hat es zwar Einschränkungen des Alkoholkonsums im Zusammenhang mit Pandemiebekämpfungsmaßnahmen auch in anderen Ländern gegeben – aber ein absolutes Verbot auch für alkoholische Getränke, die zu Hause konsumiert werden, gab es weltweit sonst nur noch in Südafrika.

Begründet wird das Alkoholverbot damit, dass Zusammenkünfte von Menschen, die gemeinsam trinken, verhindert werden sollen. Doch das ziemlich strikte Ausgehverbot schränkt die Möglichkeiten, zusammenzukommen, ohnehin ein. Außerdem hatte sich bislang niemand daran gestört, dass in Istanbul Cafés bei einer Siebentagesinzidenzw von über 800 geöffnet waren.

Erdoğan schiebt die Verantwortung für die Ausgestaltung des Lockdowns auf den Wissenschaftsrat des Gesundheitsministeriums. Dieser sei »im ersten Grade ganz verantwortlich«, sagte der Präsident, nachdem er in einer Moschee in Istanbul gebetet hatte. Befragte Mitglieder dieses Gremiums konnten sich jedoch nicht erinnern, zum Alkoholverbot geraten zu haben. Die wissenschaftliche Beraterin Serap Şim­şek Yavuz wurde noch deutlicher – das Verbot habe »keine vernünftige Seite«.

Die türkische Linkspartei (Sol Parti) bringt den wohl von vielen geteilten Verdacht auf den Punkt: »Die Seuche wird als Vorwand benutzt, um die Sharia anzuwenden, ohne ihren Namen gebrauchen zu müssen.« Auch der stellvertretende Vorsitzende der einst von Atatürk gegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP), Veli Ağbaba, schäumte. Das Alkoholverbot sei »durch und durch ideologisch«, es handele sich dabei um das »letzte Glied« in der Kette der Eingriffe von Erdoğans AKP in die Lebensweise der Menschen. »Die persönlichen Freiheiten wurden so eingeschränkt, dass das Land in ein Gefängnis ohne Mauern verwandelt wurde.«

Als wollte er den Kritikern indirekt recht geben, zitierte der Theologieprofessor Mehmet Boynukalın als Erwiderung auf die Kritik am Alkoholverbot auf Twitter eine religiöse Überlieferung: »Allah hat diejenigen verflucht, die Alkohol trinken, ausschenken, verkaufen, kaufen, bringen oder für sich selbst bringen.« Boynukalın ist nicht irgendein Theologe. Nach der spektakulären Umwandlung der Hagia Sophia
in Istanbul in eine Moschee wurde er zu deren erstem Imam bestimmt. Er blieb allerdings nicht lange in dieser prominenten Rolle. Anfang April zog er sich auf eigenen Wunsch wieder an seine Universität zurück. Wenige zweifeln daran, dass man ihm den Rückzug nahegelegt hatte. Als Propagandist der Sharia war er einfach zu laut gewor­­den. Erdoğan bevorzugt die Transforma­tion der Gesellschaft durch indirektere Maßnahmen wie die stetige Vermehrung der religiösen Predigerschulen, die Förderung von Korankursen und andere Maßnahmen im Bildungsbereich.

Auch der Alkoholkonsum wird schon seit Jahren auf verschiedenen Wegen eingeschränkt. Die Steuern steigen stetig, Verkaufslizenzen werden eingeschränkt und lokal begrenzte Verbote nehmen zu. Möglicherweise verhindert nur die wichtige Rolle des Tourismus weitergehende Alkoholverbote.

Doch gelegentlich wird den Islamisten ein demonstratives Zugeständnis gemacht. Etwa die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee oder die plötzliche Aufkündigung der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Erdoğans Regierung einst als erste ratifiziert hatte – und nun eben das Alkoholverbot gerade im Fastenmonat Ramadan.

Womöglich versucht Erdoğan, seine Anhänger mit solchen Gesten zufriedenzustellen, weil sich in anderen Bereichen die Probleme häufen. Die Lira rutscht seit zwei Jahren von einem Tief ins nächste. Die Pandemiebekämpfung verläuft noch chaotischer als andernorts. Im Frühjahr vorigen Jahres wurde eine zweitägige totale Ausgangssperre zwei Stunden vor Beginn verkündet, woraufhin die Menschen die Lebensmittelgeschäfte stürmten. Im Sommer musste der Gesundheitsminister zugeben, dass 800 00 Infektionen zu wenig gezählt worden waren. Vorige Woche gab es plötzlich keinen Impfstoff mehr, Zweitimpfungen wurden telefonisch abgesagt. Ein paar Stunden später hieß es, dass doch alle Termine wahrgenommen werden können. Ein Alkoholverbot wird die Lage nicht verbessern, aber einigen Menschen ein Mittel rauben, sie zu ertragen.