Arme und Vorerkrankte brauchen in der Coronakrise Hilfe statt Revolutionsromantik

Linke Träumereien

Es gibt berechtigte Kritik an der Kampagne Zero Covid. Doch ihre linken Gegner haben auch nach über einem Jahr Pandemie keine über­zeu­gen­den Gegenentwürfe zu bieten.

Vor dem Virus sind nicht alle gleich, Vorerkrankte trifft Covid-19 meist härter. Darüber hinaus gibt es soziale Ungleichheit: Arme und Marginalisierte sind besonders gefährdet. Diese Erkenntnis kommt nicht überraschend, das ist bei fast jeder Krankheit so.

In proletarischen Vierteln sind die Inzidenzwerte besonders hoch. Daraus lässt sich aber nicht schließen, Arme und Marginalisierte hätten möglicherweise die Entscheidung getroffen, sich lieber selbst zu gefährden, als isoliert zu leben, wie Felix Klopotek nahelegt. ­Das ist Idealisierung. Freiwillige Entscheidung als Hauptgrund für das Leben auf beengtem Raum anzunehmen, zeugte doch von einem erstaunlichen Mangel an Phantasie oder Erfahrung.

Eine emanzipatorische Haltung wischt Risiken und Gefährdungen nicht einfach beiseite, sondern nimmt sie wahr. Die Frage ist: Was brauchen Arme und Marginalisierte in der Pandemie, um sicherer leben zu können? Es ist kein Paternalismus, zu fragen, was staatlicherseits dazu nötig wäre; es ist auch kein Paternalismus, bei den Antworten auf die entsprechenden Fragen zuzuhören. Arme und Marginalisierte sind tatsächlich nicht nur Opfer der Pandemie, sie sind Leidtragende der sozialen Umstände. Die »Freiheit zu sterben« aus Liebe zum Leben, wie sie zum Beispiel die Autorin Thea Dorn propagiert, ist hingegen eher Ausdruck einer bürger­lichen Verwahrlosung.

Es gäbe viele konkrete Forderungen, die man gegenwärtig sinnvollerweise stellen könnte und die nicht erst mit der erhofften Revolution zu erfüllen wären. Die Abschaffung von Hartz IV wäre eine solche Forderung, genauso wie die, Impfstoffe anders zu verteilen, Impfpatente aufzuheben und die Profitorientierung im Gesundheitssektor aufzugeben.

Seit kurzem sind die Hausarztpraxen in die Impfkampagne einbezogen, und wohlhabende Stadtteile weisen eine weit höhere Dichte an Ärztinnen und Ärzten auf als weniger reiche. ­
Je mehr Geld man hat, desto größere Chancen hat man, schneller geimpft zu werden. Das zu skandalisieren, mag mühselig sein und im Vergleich zum erhofften kommenden Aufstand kleinkariert wirken, aber von dem kann man immer noch nachts träumen, während man tagsüber tatsächlich etwas tut.

Es wäre durchaus sinnvoll, darüber zu streiten, was nun genau zu tun wäre. Dazu bräuchte es aber auch Vorschläge der intellektuellen Linken. Die gibt es derzeit nicht. Stattdessen gibt es viel Kritik, die nirgendwo hin verweist und gern, wie Klopotek es tut, auf rheto­rische Fragen zurückgreift – oder auf blanken Zynismus. Relevante Teile der Linken scheinen keinen Sinn mehr darin zu sehen, reale Verhältnisse zu verbessern, weil diese ihrer Ansicht nach direkt aufgehoben werden müssen – oder wenn nicht, eben so bleiben können, wie sie gerade sind.

Klopotek schreibt, es sei leicht vorherzusehen, dass Streiks, bei denen die Leute wohl Masken trügen, aber eher keinen Abstand hielten, als »Superspreader-Events« denunziert würden; vielleicht würde er das auch der Kampagne Zero Covid unterstellen, andere haben das bereits getan. Doch das wäre albern. Das Gegenteil ist richtig: Die Kampagne unterstützt Streiks, auch, aber nicht nur, weil sie nach Ansicht von Zero Covid epidemiologisch sicherer sind als der Arbeitsalltag. Es gab auch keine kritischen Worte zu den »Black Lives Matter«-Protesten. Deutliche Worte gab es hingegen zu den »Querden­ken«-Demonstrationen. Es gibt kein Recht auf Fremdgefährdung, das gilt übrigens genauso für die von Klopotek als lebensfroh idealisierten Proletarier.

Jene, die das Virus am stärksten gefährdet, werden sich nicht für Aktionen gewinnen lassen, bei denen sie sich einer weiteren Gefährdung aussetzen würden.

Einer der berechtigten Vorwürfe gegen Zero Covid nahestehende Linken ist, dass sie bestehende Institutionen stützen. Es wird an den Staat appelliert und an die etablierte Gewerkschaftsbewegung. Das kann man abtun oder gar als obrigkeitshörig brandmarken. Es gab sogar Kritik von links, die es als Unterwerfung unter den Ausnahmezustand beziehungsweise einen autoritären Staat bewertete; diesen Kritikerinnen und Kritikern sei gesagt, dass sich der autoritäre Staat sehr deutlich gezeigt hat in Wohneinrichtungen wie Pflegeheimen, die monatelang abgeschottet wurden; aber dass er es an Autorität eher fehlen ließ, als es darum ging, härtere, vor allem aber einheitliche Maßnahmen zu ergreifen, die alle betreffen, was die in Einrichtungen lebenden Menschen entlastet hätte. Denn dann hätte es ein geringeres Infektionsri­siko gegeben, was mehr Freiräume eröffnet hätte, zum Beispiel für Angehörigenbesuche. Der Staat hat punktuell sein Repressionspotential abgerufen, die meisten haben es aber kaum mitbekommen, weil es sie nicht direkt betroffen hat.

Es fehlt schlicht eine Alternative. Was sollte man tun, als zu versuchen, sich der bestehenden staatlichen Institutionen zu bedienen? Die Pandemie ist eine Krisensituation. Es geht unter den derzeitigen Umständen darum, der Art und Weise, wie Lockdown-Politik praktiziert wird, genauso entgegenzutreten wie von anderer Seite propagierten Durchseuchungs- und Segregationsstrategien. Daran gab es zwar linke Kritik, aber es gab keinerlei linke Position. Und es ging auch darum, dass jene, die sich seit über einem Jahr isolieren und die größtenteils vergessen wurden – wenn sie nicht vom paternalistischen Staat als Risikogruppen geschützt, das heißt abgesondert und verwahrt wurden –, wieder eine politische Per­spektive bekommen und nicht schlicht übergangen werden wie bisher.

Es stimmt: Eine »große Pause«, wie Zero Covid sie fordert, ist kein Streik. Das allerdings hat auch nie jemand behauptet. Beide Konzepte stehen auch nicht im Widerspruch zueinander – außer man folgt der Auffassung, dass die Gesamtlage erst noch schlimmer werden müsse, bevor sich die Wut entlädt. Wer auf den alles lösenden Entscheidungskampf warten will, verkennt zweierlei: Erstens haben besonders belastete Berufsgruppen kaum eine Möglichkeit, zu streiken. Das gilt für Reinigungskräfte, deren Gehalt so gering ist, dass sie vom Streikgeld ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können; für Pflegekräfte, die zum einen Patientinnen, Bewohner und Klientinnen nicht im Stich lassen können und zum anderen, sofern sie bei kirchlichen Trägern angestellt sind, überhaupt nicht streiken dürfen. Zweitens: Jene, die das Virus am stärksten gefährdet, werden sich nicht für Aktionen gewinnen lassen, bei denen sie sich einer weiteren Gefährdung aussetzen würden.

Teile der Linken haben keinen Begriff von Behinderung – bestenfalls. Das rächt sich jetzt, sie sind nicht dazu in der Lage, die eugenischen Anteile der derzeitigen Politik zu erkennen. Ein Großteil der Verstorbenen hat zum Zeitpunkt der Erkrankung in Pflegeheimen gelebt. Die Lockerung der Impfpriorisierung hat eine Gefährdung nicht geimpfter Risikogruppen zur Folge, die kaum skandalisiert wird. Während immer mehr Berufsgruppen vorgezogen werden, sind viele Vorerkrankte immer noch nicht geimpft. Daran wird sich so schnell nichts ändern, weil die Priorisierung derart aufgeweicht wurde, dass sie de facto nicht mehr existiert.

Das bedeutet für Vorerkrankte, die einen schweren Verlauf zu erwarten haben: Draußen laufen jetzt viele Erstgeimpfte herum, die bei einer Infektion fast immer symptomlos bleiben, aber trotzdem, wenn auch mit geringerer Wahrscheinlichkeit, das Virus übertragen können. Sie können sich des Lebens freuen, während Vorerkrankte sich noch stärker abschirmen müssen – nach über einem Jahr Isolation. Wie will man denen etwas von Klassenkampf erzählen? Oder davon, dass man, um etwas zu ändern, eng beieinander stehen und lauthals zusammen die Internationale schmettern müsse!

Jene pseudoradikale Linke, die sich für nichts mehr interessiert als sich selbst, sollte sich die Frage stellen, ob sie die derzeitige Politik nicht noch eugenisch beziehungsweise sozialdarwinistisch überholt. Der Pragmatismus der prekär Lebenden, den Klopotek feiert, ist oft genug nichts anderes als eine ­autoaggressive Coping-Strategie. Irgendwie muss man ja mit der Scheiße leben, selbst wenn sie einen umzubringen droht. Dieser Pragmatismus hat einen resignativen Unterton; man fügt sich dem Risiko einer Erkrankung, wie man sich ins System fügt.

Arme und Marginalisierte haben keine andere Wahl, als sich auf staatliche Institutionen zu stützen. Linke Gegeninstitutionen, die Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung und Care-Arbeit übernehmen könnten, gibt es nicht. Die Linke könnte aufhören damit, zu sagen, von welchen besseren Möglichkeiten sie gelesen hat, und stattdessen welche schaffen oder es zumindest versuchen. Alles andere ist Koketterie.

Zero Covid ist ein Versuch, ein Netzwerk zu schaffen, in dem drängende Fragen – persönliche, soziale und politische – behandelt werden. Womöglich entsteht dabei ein Raum für linke Lösungen. Mag sein, dass das alles besser geht, radikaler, fundierter, revolutionärer. Aber wie? Nach über einem Jahr wäre es schön, dazu konkrete Vorschläge zu hören statt Träumereien.