Das echte Essen
Gino D’Acampo hat in seinen 44 Lebensjahren schon viel erreicht. Der britische Koch italienischer Herkunft hat Kochbücher geschrieben, Restaurants eröffnet, Fertiggerichte entwickelt und zwischendurch zwei Jahre im Gefängnis gesessen. Doch seine Eintrittskarte ins kulturelle Gedächtnis heutiger Internetnutzer war ein 63 Sekunden langer Videoclip.
Es war der 18. Mai 2010. D’Acampo war Gast im Frühstücksfernsehen des britischen Fernsehsenders ITV und kochte den Klassiker maccaroni and cheese. »Weißt du, wenn da jetzt noch Schinken drin wäre, dann wäre es doch eigentlich eine britische Carbonara«, plauderte die Moderatorin Holly Willoughby harmlos, während sie mit der Gabel in den Nudeln stocherte. D’Acampo fiel die Kinnlade herunter, seine Augen weiteten sich und er starrte einige Sekunden fassungslos in die Leere des Fernsehstudios. Dann sprach er die unsterblichen Worte: »Wenn meine Großmutter Räder hätte, wäre sie ein Fahrrad!« Überhaupt keinen Sinn ergebe dieser Vergleich, sagte er mit Empörung in der Stimme, während sich die Moderatoren vor Lachen krümmten.
Was authentische Landesküche und was verwerfliche Imitation sei, wird oft erst in der Diaspora ausgefochten.
Vehement auf der authentischen Zubereitung italienischer Gerichte zu bestehen, ist ein Markenzeichen D’Acampos. In einem anderen Youtube-Clip treibt ihn die Moderatorin Rochelle Humes mit ihrer Bemerkung zur Weißglut, dass sie ihre Bolognese gerne mit Salatcreme verfeinere.
Auf Youtube sind Videos von Menschen, die manchmal launig, manchmal mit tiefer Empörung darauf reagieren, wie andere ihre jeweilige Landesküche verunstalten, ein etabliertes Genre. Der Twitter-Account »Italians mad at food« (Italiener, die wütend über Essen sind) zeigt Menschen, die sich online empören, dass italienisches Essen falsch zubereitet werde. Die Streiter für die echte italienische Küche sind dabei auffallend oft Männer, die wichtigste Gewährsperson in ihrer Argumentation ist zumeist die eigene Mutter. Was die mamma oder nonna (Oma) gemacht hat, ist richtig. Wer anders als die mamma oder nonna kocht, kocht falsch.
Doch was als witzige Unterhaltung daherkommt, birgt ein ernstes und teilweise sehr emotional diskutiertes Thema. D’Acampos Kritik an der Salatcreme bezieht sich nicht auf schlechten Geschmack. Humes’ Fehler war es, die tradierten Schablonen italienischer Küche zu verlassen. Um Essen geht es in diesen Debatten nur vordergründig, gestritten wird über Identität und Kultur, Aneignung und Authentizität.
»Curry ist ein soziales Konstrukt«, twitterte die »kulinarische Aktivistin« Preeti Mistry im Mai 2018. Gemeint war damit, dass die Vorstellung eines typisch indischen Gerichtes namens »Curry« auf die Europäer zurückgehe. »Inder essen kein Curry, Kolonisatoren essen Curry. Niemals vergessen«, twitterte die gastronomische Journalistin Khushbu Shah ein Jahr später.
Interessant an dieser Debatte ist auch, wo sie geführt wird, denn sowohl Mistry als auch Shah leben in Kalifornien. Tatsächlich entstehen strenge Auslegungen landestypischer Küche oft in der Diaspora. Erst unter dem Eindruck von Migration und Fremdheit wird aus Nahrungszubereitung ein kulturelles Gut, das es zu bewahren und verteidigen gilt.
Das vielleicht berühmteste Beispiel sind Pizza und Pasta. Die Romanistin Christine Ott beschreibt in ihrem Buch »Identität geht durch den Magen«, wie »die italienische Küche« ihren weltweiten Siegeszug von den USA aus antrat: Erst im melting pot der italoamerikanischen Diaspora hätten die italienischen Regionalküchen zu einer relativ homogenen Küche zusammengefunden. Die wirtschaftliche Not des Ersten Weltkriegs machte die Teigspeisen in der übrigen US-Bevölkerung als billiges Grundnahrungsmittel populär. Im Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das ehemalige Arme-Leute-Essen schließlich als begehrte Spezialität neu erfunden, wobei auch das Kino eine Rolle spielte, denn die damals wichtigsten Filmstudios gab es in den USA und Italien.
Die Karriere der italienischen Küche ist exemplarisch. Viele Speisen haben ihre heute als ursprünglich empfundene Gestalt erst in der jüngsten Vergangenheit bekommen, und oft im Zuge ihrer globalen Verbreitung. Ein Beispiel ist die sogenannte California Roll. Diese populäre Sushi-Variante verrät schon im Namen, dass ihre Wurzeln außerhalb Japans liegen, wo sie heutzutage trotzdem gern bestellt wird.
Was authentische Landesküche und was verwerfliche Imitation ist, wird oft erst in der Diaspora ausgefochten. In Reaktion auf Khushbu Shahs Tweet über Curry als Erfindung der Kolonisatoren schrieb ein in Minnesota lebender food-Blogger, den man nur unter dem Pseudonym »My Annoying Opinions« kennt und der in Indien aufgewachsen ist, über das Phänomen des sogenannten »Curry-Leugnertums.« Die Behauptung, »Curry« sei eine europäische Erfindung, kursiere schon seit vielen Jahren, schreibt er, doch gebe es ein Problem: Sie sei falsch. »Inder kochen und essen fröhlich Curry und machen das schon seit sehr langer Zeit.«
Zwar sei es richtig, dass der Begriff Curry mit der Kolonialgeschichte zusammenhänge und er in Indien anders, nämlich als Bezeichnung für verschiedenste in würziger Sauce gekochte Gerichte, verwendet werde. Auch stimme es, dass das europäische Verständnis des Currys der gewaltigen Zahl an regionalen Varianten und unterschiedlichen Würzungen der indischen Küche nicht gerecht werde. Aber dass Begriff und Praxis des europäischen »Currys« mit der indischen Küche nichts zu tun hätten, sei eine Illusion, die vor allem zeige, »welche Rolle indische und andere ›ethnische‹ Küchen in der kulturellen Vorstellungswelt der foodies spielen.« Sie sollen »die Authentizität liefern, die der (post)modernen Ersten Welt fehlt. Aber Hunderte Millionen indischer Köche haben bei der Arbeit keine Zeit dafür.« Currypulver britisch-amerikanischer Art sei mittlerweile »so indisch wie Curry (also die in würziger Sauce gekochten Gerichte) oder indisches Englisch«, das ja schließlich auch mit den Kolonisatoren nach Indien kam.
Die Empörung über die Verbrechen, die westliche Köche an den Gerichten der ehemaligen Kolonien begehen, hat also oft schon deshalb eine gewisse Komik, weil sie mit einer Striktheit an Vorstellungen von kultureller Authentizität festhält, die außerhalb der Gastronomie als zutiefst konservativ und rigide empfunden würde. Das ruft Spötter auf den Plan: Einer der erfolgreichsten Produzenten kulinarisch-kultureller Meckervideos ist der in in Großbritannien lebende, in Malaysia aufgewachsene Komiker Nigel Ng, der sich einer überzeichneten Kunstfigur bedient, die sich über die britische Aneignung asiatischer Gerichte empört.
Sein Video »Uncle Roger empört von diesem Egg Fried Rice (BBC Food)« machte ihn im vergangenen Jahr zum Youtube-Star. Ng schimpft darin auf eine Köchin, die das ostasiatische Alltagsgericht gebratenen Reis mit Ei völlig falsch zubereite. Dazu schlüpft er in die Rolle des Uncle Roger, eines älteren, geschieden lebenden Mannes mit südostasiatischem Hintergrund, der als Migrant irgendwo im Westen für seine Küche kämpft. Ng wechselt so zwischen der Kritik der falschen Kochweise und der ironischen Persiflage ihrer Kritiker hin und her. Für Uncle Roger ist Authentizität nicht nur eine Frage von Zutaten und Zubereitung. Die Kunstfigur kritisiert auch, wenn Köche zu reich oder zu freundlich wirken. Damit ist er einer negativen Seite des kulinarischen Authentizitätsstrebens auf die Schliche gekommen.
Eine vom Online-Restaurantführer »Eater NY« veröffentlichte Untersuchung aus dem Jahr 2019 ergab, dass Nutzer der App Yelp europäische Restaurants dann als authentisch bewerten, wenn diese elegantes Interieur, weiße Tischtücher und verfeinerte Speisen boten. Bei nichteuropäischen Küchen ist der Effekt genau gegenteilig: Niedrige Preise, schmuddelige Einrichtung und grober Service wurde hier plötzlich als authentisch gelobt. Der Kulturwissenschaftler Krishnendu Ray spricht von einer Hierarchie des Geschmacks, in der unsere Ideen von bestimmten Küchen immer auch mit ökonomischen Klassenkennzeichnungen korrespondieren.
Überhaupt kann das Bestehen auf Authentizität dem Genuss auch hinderlich sein, denn dass ein altes Rezept nicht immer besser ist als ein neues, hat die Fusion-Küche in den neunziger Jahren bewiesen. Doch deren Lehren drohen im derzeitigen Authentizitätswahn, in dem jeder Rucksacktourist glaubt, genau zu wissen, wie es »in Asien« wirklich ist, vergessen zu werden. Ein Gericht in dessen Ursprungsland zu essen, ist noch keine Garantie dafür, dass es auch gut zubereitet wurde – gutes deutsches Essen ist in Deutschland zum Beispiel eher die Ausnahme.
Auch sind selbst viele Nationalgerichte in Wirklichkeit weitaus weniger national als sie erscheinen. Gulasch gilt heute als Nationalgericht Ungarns. Dabei gab es in der ersten Ausgabe das ungarischen Nationalkochbuchs »Magyar nemzeti szakácskönyve« von 1816 kein einziges Gulaschrezept. Die Erfindung der nationalen Identitäten und ihrer Symbole stand damals noch am Anfang und Gulasch war als Armenspeise verpönt. Mit seinem Ursprung bei den nomadischen Steppenkulturen, die Südosteuropa erreichten, und den unzähligen Varianten, in denen man es heute in halb Europa genießt, ist Gulasch auch eigentlich ein denkbar schlechtes Symbol für die feste und homogene Nation, die Viktor Orbáns Ungarn sein soll. Kulturessentialistischer Küchenpatriotismus überzeugt selten. Lassen wir uns davon nicht den Geschmack verderben.