Proteste und Polizeigewalt in Kolumbien

Popayán, Cali, Bogotá – die Proteste gehen weiter

In Kolumbien finden weiterhin landesweit Demonstrationen statt. Zwar zeigt sich die Regierung mittlerweile verhandlungsbereit, doch die Protestierenden sind misstrauisch. Das liegt auch an der Brutalität der Ordnungskräfte.

16 Fälle von sexueller Gewalt durch ­Sicherheitskräfte hat die unabhängige kolumbianische Menschenrechts­organisation Temblores seit Beginn der landesweiten Proteste am 28. April ­registriert. Ein Opfer war eine 17jäh­rige aus Popayán, die in den sozialen Medien öffentlich gemacht hatte, von vier Polizisten eines Sondereinsatzkommandos (ESMAD) vergewaltigt und gefoltert worden zu sein – bevor sie sich am Donnerstag voriger Woche das ­Leben nahm. Die Polizeiführung hatte die Anschuldigung zuerst als Lüge ­ab­getan. Offizielle Ermittlungen wurden erst aufgenommen, nachdem das Gebäude der Staatsanwaltsschaft, das die Minderjährige als Tatort ihrer Vergewaltigung benannt hatte, in Flammen aufging und es zu Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizeieinheiten kam.

Der Ombudsmann der Regierung zur Verteidigung der Grundrechte der Bevölkerung, Carlos Camargo, sprach am Samstag von »sehr schwerwiegenden Exzessen und Missbrauch durch die Polizei«. Er warf den Beamten vor, Be­weise und Gerichtsakten zerstört zu haben. Menschenrechtsorganisationen haben die exzessive Gewalt doku­mentiert, mit der die Polizei und das Militär gegen die Protestierenden ­vorgehen. Seit Beginn der Proteste am 28. April sind 42 Menschen ums Leben gekommen, darunter ein Polizist.

Die Haltung der Staatsführung scheint sich zu ändern, auch weil der internationale Druck zunimmt. So trat vergangene Woche die kolumbianische Außenministerin Claudia Blum zurück. Sie war zuvor mit ihrer schroffen Zurückweisung der inter­nationalen Kritik an der Polizei- und Militärgewalt aufgefallen. Am Dienstag voriger Woche hatte Blum dem Präsidenten Iván Duque, der wie sie dem Centro Democratico angehört, ihr Rücktrittsgesuch übersandt. Duque gab dem wenig später statt.

Der Präsident steht unter Druck. Dass auch er zurücktreten müsse, da sind sich die Protestierenden in Popayán, Cali, Medellín und Bogotá längst einig. Doch geht es bei den Protesten um weit mehr, betont Jhoe Sauca, Koordinator für Menschenrechte der Vereinigung der Indigenen in der Region Cauca (CRIC). »Wir hoffen darauf, dass sich im Zuge der Proteste Versammlungen gründen, die Forderungen bündeln können«, sagt Sauca. »Diese könnten dann in einer großen nationalen Versammlung diskutiert und Basis für ein Reformprogramm werden.«

Der CRIC ist der Dachverband der neun indigenen Bevölkerungsgruppen des Cauca und gilt als eine der am ­besten organisierten zivilen Organisationen Kolumbiens. Auch zum Protest auf Landesebene hat der CRIC aufgerufen. Etliche Busse fuhren aus dem weiter südlich liegenden Cauca ins benachbarte Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens. Sie brachten Protestierende, aber auch Lebensmittel für die dortigen Protestcamps. Proteste und Blockaden legen Cali seit Wochen lahm. Am 9. Mai kam es dort zu Angriffen auf die CRIC-Aktivistinnen und -Aktivisten, bei denen auch Schusswaffen benutzt wurden; mehrere Menschen wurden verletzt.

»Alle sind auf dem Weg der Besserung, nur weiß niemand, ob gegen die zivil gekleideten Schützen ermittelt wird«, kritisiert Sauca. Für ihn wäre das nichts Neues, denn brutale An­griffe und Attentate auf sowie Morde an Repräsentanten der Indigenen hat es in den vergangenen Jahren im Cauca immer häufiger gegeben. Die Region gilt als die gefährlichste und gewalttätigste Kolumbiens, indigene Akti­vistinnen und Aktivisten leben dort besonders gefährlich, wie Menschenrechtsorganisationen wie Indepaz bestätigen.

Verantwortlich gemacht wird dafür auch der Einsatz des Militärs, das die Regierung auch gegen die derzeitigen Proteste auf die Straße schickt. Das ­nationale Streikkomitee, das seit einer Woche Gespräche mit der Regierung führt, fordert, den Einsatz der Armee und den Schusswaffengebrauch der Polizei sofort zu beenden, sagt Alirio Uribe Muñoz. Der Menschenrechts­anwalt und ehemalige Parlamentarier gehört der Verhandlungskommission des Streikkomitees an. Dieses repräsentiere die Protestierenden allerdings nur begrenzt: »Viele sind nicht organisiert, gehören weder den Gewerkschaften noch Studentenorganisationen an.« Sie seien Teil einer »Jugend, die keine Perspektive hat – und dagegen richtet sich der Protest«. Das Ko­mitee fordert zudem Maßnahmen, um sexuelle Gewalt von Ordnungskräften zu unterbinden, die Aufarbeitung von Gewalttaten gegen Demonstranten und die Einbindung von Vertretern der UN und der katholischen Kirche in die Gespräche mit der Regierung.

Ob die Regierung auf diese Forderungen eingehen wird, ist ungewiss, denn Iván Duque hat in der Vergangenheit mehrfach Verhandlungen mit Vertretern der Zivilgesellschaft platzen lassen. Doch diesmal könnte der Druck der Proteste so hoch sein, dass dem erzkonservativen Politiker nichts anderes übrig bliebt. Auch am Sonntag gingen landesweit wieder Tausende auf die Straße.