Was kümmert mich der Dax - Es gibt keine Kanzlerkandidatur

Vorbild für die Mitte

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Legt man strenge Maßstäbe an, handelt es sich um fake news: Annalena Baerbock postet ihre am 19. April gehaltene Rede unter dem Titel »Meine Kandidatur für das Kanzler*­inne­namt«. Tatsächlich aber kandidiert sie für den Bundestag. Um Kanzler oder Kanzlerin zu werden, muss man nicht Mitglied des Bundestages sein, sondern dort nur die Mehrheit gewinnen. Artikel 63 des Grundgesetzes bestimmt: »Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.«

Dennoch ist es in Medien und Politik selbstverständlich geworden, von einer Kanzlerkandidatur zu sprechen. Da kann man es den Grünen kaum verübeln, dass sie mit der Herausstellung einer relativ jungen und sym­pathisch wirkenden Frau in der Konkurrenz zu Armin »Hobbit« Laschet (CDU) und Olaf »Meister Proper« Scholz (SPD) Stimmen gewinnen wollen. Aber es ist keine Kleingeistigkeit, daran zu erinnern, dass die Kanzlerkandidatur ein Mythos ist. Es gab nämlich gute Gründe, den Regierungschef nicht direkt wählen zu lassen und dem Amt einen glanzlosen bürokratischen Namen zu geben. So sollte Populismus und Personenkult entgegengewirkt werden.

Diese Phänomene sind auch in der Linken nicht unbekannt. Sahra Wagenknecht behauptet zwar nicht, Kanzlerinnenkandidatin zu sein, bedient in der deutschen Politik derzeit aber am konsequentesten populistische Muster – wenn auch vielleicht nur, weil ­anderen entsprechend talentiertes Personal fehlt. Die Grünen verfolgen eine andere Strategie, sie wollen sich ein emanzipiertes Image geben: Baerbocks innerparteilicher Konkurrent Robert Habeck verzichtete freiwillig, wenn auch, wie er sagte, schweren Herzens, auf die Kandidatur; Baerbocks Ehemann würde ihren Angaben zufolge »voll Erziehungszeit nehmen«, um sie zu entlasten. Als Kanzlerin soll Baer­bock den fortschrittlichen Konsens ­einer »neuen Mitte« personifizieren – der allerdings von dem der anderen Bundestagsparteien mit Ausnahme der AfD und teils der FDP zumindest vom Anspruch her nicht allzu weit entfernt ist. Wer ist heutzutage schon noch ­gegen Gleichberechtigung und Klimaschutz?

Auch abgesehen vom Populismus ist die Personalisierung der Politik gefährlich, insbesondere in einer Legislaturperiode, in der die ersten ernsthaften Maßnahmen zum Klimaschutz beschlossen werden müssten. Wo das Persönliche im Vordergrund steht, tritt nicht nur die inhaltliche Debatte in den Hintergrund. Auch der Trend zur Individualisierung des Klimaschutzes wird gestärkt – möglicherweise von einer Kanzlerin, die ihren »ökologische Fußabdruck« vorbildlich und öffentlich verkleinert, während die deutsche Autoindustrie weiterhin Millionen von Verbrennungsmotoren in alle Welt liefert.