Fragwürdige Aufarbeitung
Als am 28. April die Nachrichtenagenturen meldeten, in Paris seien »sieben Ex-Terroristen«, »ehemalige Mitglieder der Roten Brigaden«, festgenommen worden, war die Genugtuung in Italien groß: Endlich respektiere das Nachbarland die italienische Rechtsprechung, endlich werde der einst von linken französischen Intellektuellen durchgesetzte Schutz für »Mörder« aufgehoben.
Seit Jahren hatten alle rechtsgerichteten Regierungen Italiens gegen die französische Praxis gekämpft, ehemals militanten Linken, die von italienischen Gerichten für politische Straftaten in den siebziger und achtziger Jahren verurteilt worden waren, politisches Asyl zu gewähren. Ministerpräsident Mario Draghi betonte in einer knappen Stellungnahme zum Ende der sogenannten Mitterrand-Doktrin, die »Verbrechen des Terrorismus« seien über all die Jahre eine »offene Wunde« und im Bewusstsein der Bevölkerung lebendig geblieben.
Wenn nun »Wahrheit« und »Gerechtigkeit« gefordert werden, verbindet sich damit die Erwartung eines umfassenden Schuldeingeständnisses der ehemaligen Mitglieder der Roten Brigaden.
In Wirklichkeit dürften der italienischen Öffentlichkeit die Namen der Festgenommenen mehrheitlich ebenso unbekannt sein wie die Namen derer, für deren Ermordung sie verantwortlich gemacht werden. In der Presse waren vornehmlich alte Fahndungsfotos zu sehen, grobkörnige Schwarzweißaufnahmen jüngerer Frauen und Männer, die mittlerweile zwischen 63 und 77 Jahre alt sind, dazu ein Streckbrief der Gewalttaten und der noch ausstehenden langjährigen Freiheitsstrafen. Roberta Cappelli, Sergio Tornaghi, Giovanni Alimonti, Enzo Calvitti und Marina Petrella waren Mitglieder der Brigate Rosse (Rote Brigaden, BR); genauso wie Maurizio Di Marzio, der nicht gefasst wurde. Narciso Manenti gehörte einer kleineren bewaffneten Gruppe an. Luigi Bergamin und Raffaele Ventura, die zunächst ebenfalls der Verhaftung entgangen waren, stellten sich einen Tag später freiwillig der französischen Polizei.
Der prominenteste in Paris festgenommene »Terrorist« ist Giorgio Pietrostefani, der allerdings von keinem Gericht je der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung für schuldig befunden worden ist. Doch für biographische Unterschiede und politische Differenzierungen zwischen den »Terroristen« war im kurzen medialen Furor nach der Verhaftung kein Platz.
»Gratulation, was macht ihr jetzt mit ihnen?« fragte Adriano Sofri sarkastisch in der Tageszeitung Il Foglio. Der Autor und Journalist gehörte mit Pietrostefani zu den Gründern von Lotta Continua (Der Kampf geht weiter), einer Ende der sechziger Jahre aus der Arbeiter- und Studentenrevolte hervorgegangenen linksintellektuellen Gruppe. Wie Pietrostefani wurde auch Sofri 1991 zu 22 Jahren Haft verurteilt, beide als mutmaßliche Auftraggeber des Mordes an dem Polizeikommissar Luigi Calabresi im Mai 1972 in Mailand.
Sofri saß seine Strafe ab, Pietrostefani nutzte eine Haftunterbrechung während eines Revisionsverfahrens zur Flucht nach Frankreich. Grundlage ihrer Verurteilung waren die Anschuldigungen eines Kronzeugen. Beide haben sich immer für unschuldig erklärt. Ihr umstrittener Prozess ist typisch für die fragwürdige politische und juristische Aufarbeitung der Geschichte der außerparlamentarischen Linken und des bewaffneten Kampfs in Italien.
Calabresi war der leitende Ermittler nach dem Bombenattentat auf die Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana in Mailand im Dezember 1969. Die Polizeiuntersuchungen konzentrierten sich umgehend auf »anarchistische Gruppen«. Im Verlauf der Verhöre kam der verdächtigte, später rehabilitierte Eisenbahner Giuseppe Pinelli unter nie geklärten Umständen durch einen Sturz aus dem vierten Stock des Mailänder Polizeipräsidiums zu Tode. Lotta Continua machte in ihrer gleichnamigen Zeitung Calabresi für den Tod des Anarchisten verantwortlich und forderte in einer Unterschriftenkampagne die Entlassung des Kommissars. Als Calabresi 1972 vor seinem Haus erschossen wurde, kommentierte Lotta Continua auf der Titelseite ihrer Tageszeitung, die Tötung sei »ein Akt, in dem die Ausgebeuteten ihr Verlangen nach Gerechtigkeit erfüllt sehen«.
Nach den kürzlich erfolgten Festnahmen in Paris lag die mediale Aufmerksamkeit einmal mehr auf den damaligen Vorwürfen der linken Presse gegen Calabresi. Unerwähnt blieb, dass Lotta Continua das Bombenattentat in Mailand von Beginn an als neofaschistischen Terrorakt deutete, für den die autonome Linke verantwortlich gemacht werden sollte, um ihren gesellschaftlichen Einfluss zurückzudrängen. Erst Jahre später wurde diese von staatlichen Institutionen gedeckte sogenannte Strategie der Spannung juristisch nachgewiesen. Die Bombenleger waren Mitglieder der neofaschistischen Gruppe Ordine Nuovo (Neue Ordnung), wurden aber aus Verfahrensgründen nie zur Rechenschaft gezogen.
In einem Interview mit der Tageszeitung La Repubblica sagte Justizministerin Marta Cartabia, mit dem Auslieferungsgesuch für die in Paris lebenden linken Terroristen wahre die Regierung das Andenken der Opfer und nehme Anteil am Schmerz ihrer Familien. Aufgabe der staatlichen Institutionen ist es jedoch auch, die Beteiligung von Armee und Geheimdienst an der Serie rechtsextremer Attentate von Mailand 1969 über Brescia 1974 bis Bologna 1980, die nachfolgende Manipulation der Ermittlungsverfahren sowie die daraus resultierten Versäumnisse und Irrtümer der Prozesse aufzuarbeiten. Hierzu kündigte der Parlamentspräsident Roberto Fico am 9. Mai, dem landesweiten Gedenktag für die Opfer des Terrorismus, an, den Zugang zu bisher gesperrten staatlichen Dokumenten zu gewähren.
Der Fokus auf die Opfer der anni di piombo (bleierne Jahre) führt häufig dazu, die politischen Fronten, wie sie in den siebziger und achtziger Jahre bestanden, zu vernachlässigen, historisches Bewusstsein für die damaligen sozialen und politischen Auseinandersetzungen geht verloren. Wenn nun im Namen der Angehörigen erneut »Wahrheit« und »Gerechtigkeit« gefordert werden, verbindet sich damit die Erwartung eines ebenso umfassenden wie einseitigen Schuldeingeständnisses der Festgenommenen. Wagen sie es, wie Marina Petrella bei der ersten Anhörung vor dem zuständigen französischen Gericht, von ihrem »Schmerz und Mitgefühl« für alle betroffenen Familien, inklusive ihrer eigenen, zu sprechen, füllen sich die Kommentarspalten der Online-Medien mit wüsten Beschimpfungen.
Regelmäßig übergangen wird, dass sich längst viele ehemalige Protagonistinnen und Protagonisten des bewaffneten Kampfs um eine differenzierte Einordnung ihrer Geschichte ins »Familienalbum« der militanten Linken bemüht haben. Unter diesem Titel thematisierte Rossana Rossanda im Frühjahr 1978 die BR als Teil der Geschichte der italienischen Linken. Damit skandalisierte die Mitgründerin der Tageszeitung Il Manifesto das Verhalten der kommunistischen Parteilinken, die auf strikte Abgrenzung vom bewaffneten Kampf bedacht war. Die militante Linke begann dagegen bereits wenige Jahre später mit der kritischen Aufarbeitung des linken Terrorismus. Inzwischen liegen umfangreiche Materialsammlungen vor, in denen Theorie und Praxis der Autonomia dokumentiert und ihr Verhältnis zur Gewalt reflektiert werden. Nach der Auflösung der BR legten einige aus der Gründergeneration biographische, teils fiktionalisierte Erinnerungen vor.
Größere mediale Aufmerksamkeit haben seit der Jahrtausendwende andere »Familienalben« gefunden: Söhne und Töchter ermordeter Väter veröffentlichten ihre Erinnerungsfotos. Der Journalist Mario Calabresi, zur Zeit der Ermordung seines Vaters erst zwei Jahre alt, schrieb als einer der ersten über seine Kindheit »im Schatten des Terrorismus«, wie es im Untertitel eines seiner Bücher heißt. Wie andere Angehörige begrüßte er das Ende der Mitterrand-Doktrin, schrieb allerdings auf Twitter zur möglichen Auslieferung des als Anstifter zum Mord an seinem Vater verurteilten Pietrostefani, seine Familie empfinde keinerlei Befriedigung bei der Vorstellung, dass ein alter und kranker Mann inhaftiert werde.
Tatsächlich wurden alle in Paris Festgenommenen binnen 24 Stunden unter Auflagen wieder entlassen. Die Auslieferungsverfahren könnten zwei bis drei Jahre dauern, die offenen Haftstrafen könnten aus Alters- und Gesundheitsgründen ausgesetzt werden. Bergamins und Di Marzios Strafen sind verjährt.
Jüngere radikale Linke, die in den vergangenen Jahren zusammen mit älteren Linken aus der Autonomia in sozialen Bewegungen aktiv waren, werten das Festhalten an der juristischen Strafverfolgung als staatliche Rache an einer militanten Linken, die es längst nicht mehr gibt. Das Beharren auf Auslieferung scheint vornehmlich von symbolischer Bedeutung zu sein. Vielleicht müsste es daher weniger als nachholende Vergeltung, sondern eher als zukunftsweisende Machtdemonstration gedeutet werden. An Draghis Regierung sind schließlich auch jene rechten Parteien beteiligt, die in den vergangenen Jahren zu einer Aufwertung des Neofaschismus beigetragen und nicht nur im Wahlkampf persönliche sowie ideologische Nähe zu ehemaligen Rechtsterroristen und ihren politischen Nachfolgern gezeigt haben.