In Nepal verschärft sich die ­Regierungskrise, das Parlament wurde aufgelöst

Politisches Chaos im Himalaya

In Nepal hat die Präsidentin das Parlament aufgelöst – zum zweiten Mal binnen sechs Monaten. Während die Covid-19-Pandemie das Land hart trifft, ist kein Ende der Regierungskrise in Sicht.

In Nepal folgt eine Krise der anderen. Die Covid-19-Pandemie wütet fast so schlimm wie im benachbarten Indien. Inzwischen wurden über 50 0000 Infektionen registriert, bei einer Bevölkerung von weniger als 30 Millionen. Seit Wochen befindet sich Nepal im Lockdown, in weiten Teilen des Lan­des gilt eine Ausgangssperre. Hinzu kommen immense Preissteigerungen für Waren des täglichen Bedarfs. Und als wäre das alles nicht schon herausfordernd genug, wartete die letzte Maiwoche auch noch mit dem nächsten gravierenden Ereignis in einem innenpolitischen Machtkampf auf.

Erst die neue linke Einheit von 2018/2019 sorgte für die politische Dominanz einer einzigen Kraft, wie sie das Land seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte.

Am 26.Mai löste Präsidentin Bidya Devi Bhandari das Parlament auf. Zuvor hatte Ministerpräsident Khadga Pra­sad Sharma Oli eine Vertrauensabstimmung verloren, doch seine Gegner hatten keine Mehrheit für eine neue Regierung zustande gebracht. Eigentlich wür­den damit am 12. und 19.November Neuwahlen anstehen. Ob es dazu aber kommt, ist noch nicht ausgemacht. An die 30 Klagen gegen Bhandaris Entscheidung sind beim Obersten Gerichtshof eingegangen. Dieser hatte vor fünf Monaten schon einmal vorzeitige Neuwahlen verhindert.

Viele im Land mögen das Gefühl eines Déjà-vu haben: Nahezu identische Vorzeichen gab es schon zum Jahreswechsel 2020/21. Auf Veranlassung Olis, der seine Mehrheit nicht mehr gewährleistet sah, hatte die Präsidentin am 22.Dezember das Parlament für aufgelöst erklärt – die daraus resultierenden Neuwahlen hätten Ende April und Anfang Mai stattgefunden. Doch der Oberste Gerichtshof hatte die Entscheidung als nicht verfassungsgemäß widerrufen.

Um zu verstehen, was sich in Nepal im vergangenen halben Jahr abgespielt hat, muss man aber noch etwas weiter zurückgehen, mindestens bis zum letzten Quartal 2017. Damals wurde regulär gewählt; erstmals trat das sonst zersplitterte linke Lager weitgehend geeint an und errang so einen Sieg. Die Allianz aus der Kommunistischen Partei Nepals – Vereinigte Marxisten-Leninisten (CPN-UML) und der Kommunistischen Partei Nepals – Maoistisches Zentrum (CPN-MC) triumphier­­te nicht nur auf nationaler Ebene – die CPN-UML erhielt knapp 31, die CPN-MC 15 Prozent der Stimmen –, sondern auch in den durch die Verfassung von 2015 neu geschaffenen Provinzen. Rund ein halbes Jahr später schlossen sich bei­de Parteien zur Nepalesischen Kommunistischen Partei (NCP) zusammen. Ministerpräsident Oli und Pushpa Kamal Dahal alias Prachanda, der vormalige Vorsitzende der CPN-MC, wurden zu gleichberechtigten Co-Vorsitzenden gewählt. Und obwohl die Maoisten deutlich weniger Sitze als die UML erhalten hatten, war es trotz einiger Spannungen tatsächlich ein Zusammenschluss auf Augenhöhe.

Die Maoisten hatten unter Prachandas Führung von 1996 bis 2006 in einem zehnjährigen Guerillakrieg gegen das konservative und monarchistische System gekämpft. Die UML dagegen gehörte schon lange zum politischen Establishment und war bis zum Aufgehen in der gemeinsamen Partei eher als linkssozialdemokratisch einzustufen. Seit der politischen Neukonstituierung Nepals als föderale Republik ab 2008 hatten sich die beiden großen linken Parteien und der sozialliberale Nepali Congress (NC) in wechselnden Konstellationen an der Regierung abgewechselt. Viele dieser Bündnisse hielten nur wenige Monate. Erst die neue linke Einheit von 2018/2019 schickte den NC weit abgeschlagen in die Opposition und sorgte für die politische Dominanz einer einzigen Kraft, wie sie das Land seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte.

Das funktionierte rund anderthalb Jahre sogar weitgehend reibungslos. Zumindest nach außen wirkten die Entscheidungsprozesse harmonisch – erst im Laufe des Jahres 2020 traten neue Konflikte zutage. Vor allem der ehemalige Führer der Maoisten, Prachanda, und seine engsten Getreuen warfen Oli eine zu große persönliche Machtfülle vor und drängten ihn, wenigstens eines seiner beiden Ämter, das des Ministerpräsidenten oder das des Parteivorsitzenden, aufzugeben. Da Oli sich weigerte, verhärteten sich die Fronten. Die erste Parlamentsauflösung war somit aus Olis Sicht der Versuch eines Befreiungsschlages.

Von Bedeutung ist dabei, dass die politischen Verwerfungen voriges Jahr keineswegs klar entlang der einstigen Grenze zwischen den beiden verschmolzenen Parteien verliefen. Es gab durchaus einige namhafte Maoisten, die Oli den Rücken stärkten. Umgekehrt hatten sich aus der früheren UML insbesondere die beiden ehemaligen Ministerpräsidenten Madhav Kumar Nepal und Jhala Nath Khanal, alte parteiinterne Rivalen Olis, mit Prachanda verbündet.

Sowohl dem letztgenannten Trio als auch dem NC kam es sehr gelegen, dass die Obersten Richter im ­Februar das suspendierte Parlament wieder in sei­ne Rechte einsetzten. Allerdings fällte der Oberste Gerichtshof schon im März eine weitere Entscheidung, die das Chaos noch vergrößerte. Es erklärte den Parteizusammenschluss von 2019 für nichtig, weil es bereits eine kommunistische Kleinstpartei mit Namen NCP gebe. Die neue NCP hörte damit plötzlich auf zu existieren, alles war wieder auf die Vorgängerparteien CPN-UML und CPN-MC zurückgeworfen.

Die Fraktion um Nepal und Khanal kehrte zwar ebenfalls in ihre alte politische Organisation zurück, hadert aber bis heute mit Oli und entzieht sich weitgehend dessen Kontrolle. Als sich der Ministerpräsident in der ersten Maiwoche dem Vertrauensvotum stellen musste, blieben diese Abgeordneten der Abstimmung demonstrativ fern. Dies war der Hauptgrund dafür, dass Oli nicht auf die notwendigen 136 Stimmen im insgesamt 271 Mitglieder zählenden Parlament kam. Die Vertreter der de facto aus der Regierung ausgetretenen CPN-MC hatten gemeinsam mit dem oppositionellen NC gegen den amtierenden Ministerpräsidenten gestimmt.

Auch die vierte relevante Kraft im Parlament präsentierte sich intern gespalten. Die Hälfte der Abgeordneten der sozialistischen Janata Samajbadi Party (JSP-N), die sich als Interessenvertretung der Madhesi-Bevölkerung des Tieflandstreifens im Süden an der Grenze zu Indien sieht, enthielt sich, während die andere Hälfte gegen Oli votierte.

Einigen Berichten zufolge hatte zuletzt Sher Bahadur Deuba, der Vorsitzende des NC und bisherige Oppositionsführer, der auch schon mehrfach als Ministerpräsident amtierte, eine Mehrheit zusammenbekommen. Mit der Parlamentsauflösung verwehrte die Präsi-
dentin, die zur UML gehört, ihm aber die Möglichkeit, dies bei einer Abstimmung unter Beweis zu stellen. Die Nepalesische Studentenunion (NSU), die Studierendenorganisation des NC, verbrannte daraufhin in den Straßen der Hauptstadt Kathmandu bei Protestaktionen Puppen von Oli und Bhandari. Aber auch Maoisten und Vertreter der Zivilgesellschaft werfen der Präsidentin vor, sich ein weiteres Mal zur Handlangerin des Ministerpräsidenten zu machen.

Das zwischen den regionalen Großmächten China und Indien gelegene Nepal ist damit seit Monaten auf den Zustand vor 2018 zurückgeworfen: Die politische Kaste ist abermals weitgehend mit sich selbst und ihren internen Kleinkriegen beschäftigt, während die Bevölkerung vergeblich der Lösung zahlreicher Probleme harrt. Die wirtschaftliche Stagnation und die oft in­effiziente Verwaltungsstrukturen stehen schon lange Entwicklungsfortschritten im Weg. In den Hochgebirgsregionen gibt es noch immer Dörfer, die nicht ans Stromnetz angeschlossen sind. Wichtige Infrastrukturprojekte schleppen sich hin, im Süden des Landes wüteten dieses Jahr die schlimmsten Waldbrände seit langem.

Nun haben die rapide steigenden Covid-19-Infektionszahlen die Lage im Land dramatisch verschärft. Im Tempel von Pashupatinath, der wichtigsten Stätte der Hindus für Feuerbestattungen im Kathmandutal, kommt man mit den Leichenverbrennungen kaum noch hinterher. Lebensmittel werden für die Ärmsten zunehmend unerschwinglich, zumal viele Menschen durch die Pandemie ihr ohnehin geringes Einkommen verloren haben. Nun sind alle Blicke erneut auf den Obersten Gerichtshof gerichtet. Vier ehemalige der Richter haben in einer gemeinsamen Erklärung bereits die Parlamentsauflösung als erneuten Verfassungsbruch und Negation des Urteils vom Februar bezeichnet.