Risse in der Brandmauer
Am kommenden Sonntag findet in Sachsen-Anhalt die letzte Landtagswahl vor der Bundestagswahl am 26.September 2021 statt. In Umfragen ringen CDU und AfD um den ersten Platz. Die Partei der extremen Rechten könnte die stärkste Fraktion bilden.
Die Reaktionen auf den Wahlausgang in Sachsen-Anhalt werden den bundesweiten Vorwahlkampf eröffnen.
Schon 2016 zog die AfD, die in Sachsen-Anhalt besonders lautstark einen völkischen Nationalismus propagiert, mit satten 24,3 Prozent als zweitstärkste Kraft in den Landtag ein. Der seit 2011 amtierenden Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sah sich in Reaktion auf das Wahlergebnis zur Bildung einer sogenannten Kenia-Koalition gedrängt, eines Dreierbündnisses aus CDU, SPD und Grünen. Diese Koalition befand sich, wie zuletzt der im Dezember 2020 ausgefochtene Streit um die Erhöhung der Rundfunkgebühren gezeigt hat, oftmals im Krisenmodus.
Der zu erwartende Wiedereinzug der FDP in den Magdeburger Landtag sowie die mögliche Verdopplung des Stimmenanteils der Grünen, die im März 2016 nur 5,2 Prozent erhielten, könnten eine Koalitionsbildung in der kommenden Legislaturperiode noch schwieriger machen. Nicht nur die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung sieht das kleine Sachsen-Anhalt deshalb als Testfall für künftige »niederländische Verhältnisse« in der Bundesrepublik. Gemeint ist damit der fragile Zustand, in dem auch einstmals starke Parteien die Unterstützung mehrerer Koalitionspartner brauchen. Schon wird zwecks origineller Namensgebung eifrig geschaut, welche Nationalflaggen die jeweiligen Parteifarben der Koalitionsoption symbolisieren können. Die prognostizierten Modelle reichen von »Kenia« (CDU, SPD und Grüne) über »Deutschland« (CDU, SPD und FDP) bis hin zu »Zimbabwe« (ein Viererbündnis aus Grünen, FDP, SPD und CDU).
Sachsen-Anhalt war schon in den neunziger Jahren ein Versuchslabor für das deutsche Parteiensystem. Auf Grundlage des »Magdeburger Modells« tolerierte die damalige PDS ab 1994 eine Minderheitsregierung von SPD und Grünen – ein Modell, das auch nach dem Ausscheiden der Grünen aus dem Landtag nach der Wahl 1998 bis zum Jahr 2002 fortgeführt wurde. Für CDU und FDP war dieser Pakt damals ein Skandal, das Tolerierungsmodell war aber erstaunlich stabil.
Auch bei dieser Wahl werden nicht nur die Wahlergebnisse, sondern vor allem die überregionalen Reaktionen auf den Wahlausgang in Sachsen-Anhalt von besonderer Bedeutung sein. Diese werden den bundesweiten Vorwahlkampf eröffnen. Für die CDU, die mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet einen im Osten wenig beliebten Kanzlerkandidaten präsentiert, zeigt sich am Wahlsonntag ein wichtiger Tendenzwert. Die Stimmung in Sachsen-Anhalt war für die Regierungspartei aber auch schon in Frühjahr wichtig. Es war Reiner Haseloff, der auf dem Höhepunkt des zwischen Laschet und Markus Söder (CSU) ausgetragenen Machtkampfs um die Kanzlerkandidatur für den bayerischen Ministerpräsidenten warb.
Dass Haseloff sein für viele überraschendes Votum nicht mit Inhalten, sondern zuvorderst mit Söders besseren Umfragewerten begründete, lässt sich nicht nur mit der Angst des Wahlkämpfers vor dem Stimmenverlust erklären. Aus Haseloff sprach die geistige Leere der Union, die nach der 16jährigen Kanzlerschaft von Angela Merkel nicht wie eine Partei, sondern wie ein Patchwork von konkurrierenden Personennetzwerken agiert. Wie zuvor die SPD tritt gegenwärtig die alte Machtmaschine CDU eher wie ein Kanzlerverhinderungsverein auf.
Für den Osten, der rund 30 Jahre nach der »Wende« immer noch unter der Bezeichnung »neue Bundesländer« firmiert, hat die CDU wenig im Angebot. Der Aachener Armin Laschet wirkt nicht nur ob seines rheinländischen Timbres in Sachsen-Anhalt wie der einst sprichwörtliche Westbesuch, der in dem Fall aber zu ungelegener Zeit vorbeischaut. Der ehemalige Europaabgeordnete hat zudem eine stärkere Beziehung zu Brüssel und Straßburg als zu Magdeburg und Halle. Sein Sozialkatholizismus hat im weitestgehend säkularisierten Osten Deutschlands nur eine geringe Strahlkraft. Zudem scheint Laschet ob seiner liberalen Grundhaltung der Parteirechten, die gerade in Sachsen-Anhalt fest verankert ist, eher verdächtig.
Insofern war es eine riskante Entscheidung von Haseloff, sich von Laschet in der heißen Phase des Wahlkampfs begleiten zu lassen. Sehr wahrscheinlich wird die CDU auch 2021 nicht mehr an einstige Ergebnisse von über 30 Prozent anknüpfen können. Da wirkt es unfreiwillig ironisch, dass die »Die Sachsen-Anhalt-Partei« CDU die Gäste auf ihrer Homepage mit der Losung »Wir bleiben auf Erfolgskurs!« begrüßt.
Im Fokus der Berichterstattung steht derzeit die Reaktion der CDU auf den möglichen Wahlerfolg der AfD. Haseloffs Position ist hier nach außen hin eindeutig. »Als Partner kommt die AfD für die CDU in Sachsen-Anhalt nicht in Frage, in keiner Form. Punkt, aus, Schluss«, sagte Haseloff am Wochenende vor der Wahl der Welt am Sonntag. Im Dezember entließ er den CDU-Innenminister Holger Stahlknecht, da dieser im Rundfunkgebührenstreit eine Minderheitsregierung der CDU ins Spiel gebracht hatte. Diese wäre auf die Stimmen der extremen Rechten angewiesen gewesen. Haseloff setzte sich 2016 für die Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl gegen Stahlknecht durch. Aber auch er kann die Berichte von Politikern anderer Parteien und Journalisten nicht dementieren, wonach es auf informeller Ebene, vom Plausch im Parlamentsflur über das angeregte Gespräch beim gemeinsamen Getränk, sehr wohl einen über Höflichkeitsfloskeln hinausgehenden Austausch zwischen Abgeordneten der Union und der AfD gibt.
Bereits 2017 kam auf Antrag der AfD die Enquete-Kommission zum Thema »Linksextremismus« auch mit Stimmen von weiten Teilen der CDU-Fraktion zustande. Im Februar 2021 wurde die Kommission wieder aufgelöst. Und es waren die beiden stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der CDU, Ulrich Thomas und Lars-Jörn Zimmer, die im Juni 2019 in einer sogenannten Denkschrift dafür plädierten, »dass Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen«. Beide kandidieren trotz aller Kontroversen auch mit der Bundesparteispitze wieder für den Landtag. Sie repräsentieren die bisherige zweite Reihe in der Ost-CDU, die eine künftige Kooperation mit der AfD nicht ausschließt. Dabei tritt die AfD in Sachsen-Anhalt besonders kulturkämpferisch auf. Ihr Wahlprogramm umfasst Sätze wie diesen: »Die Kunstfreiheit ist kein Anspruch, jeden Schund gefördert zu bekommen.« Dieser an eine Bundeskulturkammer oder die »Aktion Saubere Leinwand« erinnernde Duktus zeigt besonders deutlich das reaktionäre Kunstverständnis der AfD.
Vor diesem Hintergrund wurden an der CDU-Basis Stimmen laut, die sich gegen jede Normalisierung im Verhältnis von Union und AfD richten. Eine »Plattform engagierter Christdemokraten – Für eine NEUE CDU-Sachsen-Anhalt« wandte sich Anfang Mai in »tiefer Sorge« mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit, der zwei Kernforderungen umfasst. Demnach solle sich die CDU keinen AfD-Anträgen anschließen und ihre Mehrheiten ohne AfD-Stimmen organisieren. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wie viel Unterstützung die kaum bekannten, meist aus dem Kreisverband Halle stammenden Initiatorinnen und Initiatoren erhalten.
Bekommt die vielbeschworene »Brandmauer« gegen die AfD neue Risse, würde das nicht nur die unverkennbare Ost-West-Spaltung der CDU verstärken. Marco Wanderwitz, der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, rüstete wohl auch deshalb rhetorisch gegen die AfD und ihre Anhänger auf. »Wir haben es«, sagte er in einem Podcast der FAZ, »mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.« Ein wichtiges Detail müsste dem 1975 in Chemnitz geborenen Wanderwitz allerdings zu denken geben: Laut Infratest-Dimap kamen die Stimmen für die AfD bei der Wahl 2016 vor allem von einstigen Nichtwählern – und dann aus den Reihen der CDU. Es ist nicht zuletzt das zur AfD abgewanderte Wählermilieu der CDU, von dem er hier spricht.
Nicht nur für den liberalen Flügel der Christdemokratie wäre eine offensive Annäherung an die AfD ein Affront, der die CDU in ihrer jetzigen Form zerlegen würde. Zwar ist ein solches Szenario angesichts der Kräfteverhältnisse in der Gesamtpartei noch unwahrscheinlich. Aber am kommenden Sonntag könnte die AfD der CDU zumindest wieder neue und vielfach krisenanfällige Koalitionsmodelle aufnötigen.