Der Mord an Heinz-Herbert Karry im Jahr 1981 wurde nie aufgearbeitet

Das »Aktionsziel« verfehlt

In den frühen Morgenstunden des 11. Mai 1981 wurde der hessische Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry (FDP) in seinem Wohnhaus in Frankfurt am Main erschossen. Die Täter hatten eine Leiter an das Schlafzimmerfenster seines Bungalows gestellt und mit einer Pistole auf den schlafenden Minister gefeuert. Karry verblutete in seinem Bett.

Die Revolutionäre Zellen versuchten immer wieder, ihren Bruch mit der Vergangenheit in einem vermeintlich unbefangenen Umgang mit Juden zu demonstrieren.

In den folgenden Wochen berichteten die deutsche und die internationale Presse über den Fall. Karry war der erste Minister in der Geschichte der Bundesrepublik, der einem Attentat zum Opfer gefallen war. Etwa zwei Wochen nach dem Mord bekannten sich die Revolutionären Zellen (RZ), das spontaneistische Konkurrenzunternehmen zur RAF, zu der Tat. Die Gruppe erklärte hämisch, es sei nicht geplant gewesen, Karry »in die ewigen Jagdgründe« zu befördern. Man habe ihn durch Schüsse in die Beine nur bewegungsunfähig machen wollen. Doch die Schüsse aus nur drei Metern Entfernung, die seine Baucharterie zerfetzten, lassen Zweifel an dieser Version aufkommen. Mindestens scheint der Tod des Opfers billigend in Kauf genommen worden zu sein. Lapidar erklärten die Revolutionären Zellen in ihrem Bekennerschreiben, dass sie der Tod Karrys nur deshalb bekümmere, weil sie damit »das Aktionsziel« verfehlt ­hätten.

Heinz-Herbert Karry war nicht nur ein politischer Repräsentant der Bundesrepublik, er war zugleich einer der ersten Juden, die es nach der Ermordung Walther Rathenaus durch Angehörige der völkischen Organisation Consul 1922 auf einen deutschen Ministerposten geschafft hatten. Vor der Veröffentlichung des Bekennerschreibens wurde gemutmaßt, dass Neonazis für seinen Tod verantwortlich seien. Auch andere Gerüchte waren im Umlauf. Da sich Karry für die Zusammenarbeit mit Israel eingesetzt hatte, wurde zunächst auch über palästinensische Täter spekuliert. Obwohl sich die RZ nie von dem Mord und dem Bekennerschreiben distanzierten, kursieren gelegentlich noch immer Gerüchte, bei denen wahlweise Neonazis, der Mossad oder dubiose Geschäftspartner für das Attentat verantwortlich gemacht werden. Offiziell gilt die Tat als nicht aufgeklärt.

In der Biographie Heinz-Herbert Karrys verdichtete sich die jüngere deutsche Geschichte. Karry wurde 1920 als Sohn des jüdischen Färbermeisters Max Karry in Frankfurt am Main geboren und machte nach seiner Schulzeit eine Ausbildung zum Kaufmann. Im Nationalsozialismus wurde sein Vater ins Konzentrationslager deportiert, Heinz-Herbert Karry musste als »Halbjude« Zwangsarbeit leisten. Im April 1945 wurde er von US-amerikanischen Truppen aus dem Arbeitslager befreit. Gleich nach seiner Rückkehr nach Frankfurt arbeitete Karry ehrenamtlich für die Jüdische Betreuungsstelle und organisierte die Rückkehr der wenigen Frankfurter Juden, die den Holocaust im Ghetto Theresienstadt überlebt hatten. Unter ihnen befand sich auch sein Vater. Karry wurde Treuhänder der Jüdischen Gemeinde und übernahm später die Schirmherrschaft der Women’s International Zionist Organisation in Frankfurt.

Parallel dazu wandte er sich der Immobilien- und der Textilbranche zu. Da ein Angestelltenverhältnis bei einer deutschen Firma für viele Juden nach dem Krieg auch deshalb undenkbar war, weil sie aufgrund der Verfolgung keine Ausbildung hatten, entschieden sie sich oft für die Selbständigkeit. Sie versprach eine gewisse Unabhängigkeit und war selten auf Langfristigkeit angelegt. Im zerstörten Frankfurt wurden jüdische Unternehmer darum auch im Immobilienbereich tätig, der zwar risikoreich war, aber hohe Erträge versprach.

Während Karrys unternehmerische Tätigkeit relativ typisch für die Nachkriegskarriere von Juden war, war sein parteipolitisches Engagement eine Ausnahme. Selbst wenn sich Überlebende des Holocaust nach 1945 gegen eine sofortige Auswanderung aus Deutschland entschieden, saßen sie meist auf gepackten Koffern. Der Eintritt in Parteien galt oft als ausgeschlossen: Er zielte auf eine Zukunft im Land der Täter, die zunächst kaum vorstellbar war. Auch Karrys Entscheidung für die FDP war ungewöhnlich. Zwar gelten die liberalen Parteien historisch als die »engsten Verbündeten der Juden« (Jay Ho­ward Geller). Als Heinz-Herbert Karry der Partei 1949 beitrat, war sie jedoch noch nationalliberal ausgerichtet und bot auch ehemaligen Nazis ein Forum. Erst unter Karrys aktiver Mitwirkung rückte die hessische FDP nach links.

Für solche Fragen interessierten sich die Attentäter jedoch nicht. Sie verwiesen in ihrem Bekennerschreiben vor allem auf den Bau des Atomkraftwerks Biblis und den geplanten Bau der Startbahn West. Beide Unternehmungen fielen in Karrys Aufgabenbereich als hessischer Wirtschaftsminister. Auch raunten die Revoluti­onären Zellen zugleich von »zionistischen Verwicklungen« des Ministers. Das Attentat auf Karry mag insofern auch der Geschichtsblindheit der deutschen Linken geschuldet gewesen sein. Sie fühlten sich qua Bekenntnis zum Antifaschismus frei von den Belastungen der Vergangenheit.

Gerade die Zwanghaftigkeit, mit der sich deutsche Linke nach 1945 immer wieder an Juden abarbeiteten, zeigt jedoch, wie stark sie dieser Geschichte verbunden waren. Der Historiker Dan Diner deutete diesen Aktivismus einmal als kontraphobische Reaktionsbildung: »Was man, um ­einem möglichen Wiederholungszwang zu entgehen, floh, setzte sich (…) symbolisch in der Vermummung seines vorgeblichen Gegenteils durch.« Das zeichnete sich schon während des Frankfurter Häuserkampfs Anfang der Siebziger ab, an dem einige Gründungsmitglieder der Revolutionäre Zellen (RZ) beteiligt waren. Obwohl weniger als ein Drittel der Investoren, die sich an der Umstrukturierung des Frankfurter Westends beteiligten, aus jüdischen Familien kamen, konzentrierte sich der Protest vor allem auf sie. Insbesondere ­Karrys Freund Ignatz Bubis, der 1969 ebenfalls der FDP beigetreten war, wurde zum Feinbild der Linken. Der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland wurde als »jüdischer Spekulant« beschimpft; Aktivisten verklebten Fahndungsplakate mit seinem Bild. Karikaturen mit antisemitischen Motiven kursierten in der Szene.

Auch die Revolutionäre Zellen versuchten immer wieder, ihren Bruch mit der Vergangenheit in einem vermeintlich unbefangenen Umgang mit Juden zu demonstrieren. Die Entführung des Air-France-Flugs 139 nach Entebbe 1976 ist nur das bekannteste Beispiel. Dort trennten RZ-Mitglieder gemeinsam mit Angehörigen der palästinensischen Wadi-Haddad-Gruppe jüdische von nichtjüdischen Passagieren. Neben der Entführung, der Beteiligung an der Geiselnahme bei der Opec-Konferenz 1975 in Wien und der Ermordung Karrys gab es mehr als ein halbes Dutzend Anschläge der Revolutionären Zellen, die mindestens teilweise »antizionistisch« begründet wurden. Zeitweise diskutierten sie mit Mitgliedern der Wadi-Haddad-Gruppe sogar über ein Attentat auf Heinz Galinski, den ­Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Berlin.

Während die Opec-Geiselnahme und die Flugzeugentführung nach Entebbe in der Linken vereinzelt kritisiert wurden, löste das Attentat auf Karry keinerlei Reaktionen aus. Auch in den Diskussionen über Antisemitismus von links, die verstärkt seit den Neunzigern geführt wurden, spielte es kaum eine Rolle. Dem Image der Revolutionären Zellen als der im Vergleich zur RAF menschenfreundlicheren Truppe hat der Fall nicht wirklich geschadet. Die Auseinandersetzung mit der Ermordung eines prominenten deutsch-jüdischen Politikers steht auch 40 Jahre nach der Tat noch ganz am Anfang.