In Israel will eine Achtparteienkoalition Ministerpräsident Netanyahu stürzen

Die Spannung steigt

Acht Parteien haben sich in Israel zusammengerauft, um den langjährigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu aus dem Amt zu drängen. Ein Liebesbündnis ist die neue Koalition nicht.

Es geschah auf den letzten Drücker. Nur 25 Minuten vor Ablauf der 28tägigen Frist, die Yair Lapid laut Gesetz zur Verfügung stand, um eine Koalition auf die Beine zu stellen, vermochte der Frontmann der zentristischen Partei Yesh Atid am 2. Juni um 23.35 Uhr endlich den Durchbruch zu vermelden. »Ich habe eine Regierung bilden können«, teilte er, erschöpft vom Verhandlungsmarathon, dem Staatspräsidenten Reuven Rivlin mit. Das entscheidende Dokument, dass er zugleich präsentierte, trug die Unterschriften von ihm und sieben weiteren Parteivorsitzenden. Denn acht Parteien waren nötig, um auf 61 der 120 Stimmen in der Knesset ­hoffen und Ministerpräsident Benjamin »Bibi« Netanyahu nach zwölf Jahren aus dem Amt drängen zu können.

Solange die neue Regierung nicht offiziell im Amt ist, werden die Versuche Netanyahus und seiner Verbündeten, einen Keil in die »Koalition des Wechsels« zu treiben, nicht aufhören.

Dass es Lapid gelungen war, diese Koalition zu schmieden, nötigt Respekt ab – schließlich könnten die Partner kaum unterschiedlicher sein. So sind in ihr sowohl die zentristischen Gruppierungen Yesh Atid und Blau-Weiß vertreten wie auch drei Parteien aus dem nationalistischen Lager, nämlich Yamina, Tikva Hadasha und Israel Beitenu. Ferner gehören ihr wohl die sozialdemokratische Arbeitspartei sowie die Linkszionisten von Meretz an und last but not least die islamistische Partei Ra’am. Zudem überließ Lapid, dessen Fraktion mit 17 Knesset-Abgeordneten die meisten Parlamentarier der Koalition stellt, Naftali Bennett den Vortritt, der mit seiner Yamina gerade einmal über sieben Sitze verfügt: Der 49jährige Hightech-Millionär soll die ersten zwei Jahre Ministerpräsident werden. Im September 2023 soll dann Lapid das Amt übernehmen. Rivlin hatte dem Rotationsverfahren bereits zuvor zugestimmt.

»Damit man den nationalistischen Wählern eine Einheitsregierung schmackhaft machen kann, die Israels dienstältesten rechten Ministerpräsidenten absetzen soll, brauchte die Koalition einen Frontmann aus genau diesem Lager«, erläutert Yair Rosenberg im Magazin Tablet die Idee dahinter. »Dieser heißt nun Naftali Bennett, ein ehemaliger Schützling Netanyahus, der der Siedlerbewegung nahesteht und Vorsitzender einer nationalistischen Partei ist.« Um ihn für das Bündnis zu gewinnen, stellte Lapid seine eigenen Ambitionen hinten an – auch das ein kluger Schachzug, der zeigt, dass man den 57jährigen, der seine Karriere als Fernsehmoderator und Amateurboxer begonnen hatte, keinesfalls unterschätzen sollte.

»Es ist schon eine ziemlich bizarre Situation«, bringt es Roni Rimon, ein erfahrener politischer Stratege, der 2009 Netanyahus Wahlkampf geleitet hatte, in der Financial Times auf den Punkt. »Parteien von der äußersten Linken und solche von der äußersten Rechten tun sich zusammen, weil sie nur ein Ziel haben, und zwar Netanyahus Sturz.« Selbst Avigdor Lieberman von der nationalistischen Partei Israel Beitenu und Nitzan Horowitz, Vorsitzender von Meretz, schließen Frieden und stellen ihr Ego zurück – zumindest vorläufig. Der Wunsch, den Amtsinhaber zu stürzen, überwand am Ende alle noch so großen inhaltlichen Differenzen.

In der Achtparteienkoalition finden sich zahlreiche Personen wieder, die in der Vergangenheit Netanyahus politische Weggefährten waren oder zu seinen Protegés gehörten. Auch Lapid war Finanzminister in einem seiner Kabinette. Doch Netanyahu stieß sie alle ­irgendwann gewaltig vor den Kopf. Nun erhält er für die Schmähungen, gebrochenen Versprechen oder Intrigen von einst die Quittung.

»Der Likud-Chef hatte seine politischen Partner immer mit Verachtung behandelt«, fasst Ovadia Yehezkel, ehemals Kabinettssekretär von Ministerpräsident Ehud Olmert, diese Haltung in einem Kommentar für das Nachrichtenportal Ynet zusammen. Das sollte sich rächen. Den Anfang machte im Herbst 2018 Lieberman, indem er als Verteidigungsminister zurücktrat. ­»Netanyahu erklärte damals, dass die Motive seines ehemaligen Verbündeten persönlicher und keinesfalls ideologischer Natur gewesen seien«, so Yehezkel. »Mit dieser Einschätzung lag er gar nicht mal so falsch.« Die Letzten, die am Ende das Weite suchten, waren Bennett und Ayelet Shaked, die Netanyahu 2019 als Justiz­ministerin entlassen hatte.

Lapids größter Coup aber war zweifelsohne die Einbindung von Ra’am. Mansour Abbas, ihr Vorsitzender, war über Monate hinweg sowohl von Netanyahu als auch von Lapid heftigst umworben worden. Weil weder das Pro-Bibi- noch das Bloß-nicht-Bibi-Lager eine Mehrheit hatten, sah der 47jährige Zahnarzt sich plötzlich in der Rolle des Königsmachers. Bereits Anfang Mai schien es, als wolle er das Bündnis der Netanyahu-Gegner unterstützen. Dann brach die Hamas den Elftagekrieg vom Zaun und in Is­rael kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Daraufhin erklärte Abbas, er stehe für weitere Gespräche nicht mehr zur Verfügung. Kurz darauf machte er die nächste Kehrtwendung. Plötzlich wollte er nicht nur Mehrheitsbeschaffer, sondern gleichberechtigter Partner in Lapids Koalition werden.

Womöglich gibt es also eine Premiere: Wenn die neue Regierung wie geplant am 14. Juni vereidigt werden sollte, wäre erstmals in der Geschichte eine eigenständige arabische Partei beteiligt. Sollte es Abbas wirklich gelingen, für seine arabischen Wähler spürbare Verbesserungen – beispielsweise bei der Verbrechensbekämpfung oder dem Ausbau der Infrastruktur in ihren Kommunen – zu erzielen, dann würde das langfristig große politische Veränderungen in Israel mit sich bringen. Die arabische Wahlbeteiligung, die zuletzt 23 Prozentpunkte unter der jüdischen lag, könnte in Zukunft deutlich höher ausfallen.

Nicht in Lapids Bündnis vertreten sind die politischen Vertreter der Ultraorthodoxie. Ihre Vorsitzenden beschworen Bennett, Shaked und auch den Likud-Abtrünnigen Gideon Sa’ar über Wochen hinweg, sich auf keinen Deal mit den »Linken« einzulassen, weil dieser »das Land Israel und die Tora gefährden« würde. Als das nichts bewirkte, wurden sie ungehalten. »Lapid Ministerpräsident werden zu lassen und dabei zugleich die religiösen Werte und Traditionen Israels zu gefährden, ist ein eklatanter Mangel nationaler Verantwortung«, so Wohnungsbauminister Yaakov Litzman von der Partei Vereintes Tora-Judentum.

Was sie aber am meisten wurmt, ist die geplante Übernahme des Finanzministeriums durch Lieberman. Der Vorsitzende von Israel Beitenu hat bereits angekündigt, Sozialleistungen für die Ultraorthodoxen zusammenzustreichen und finanzielle Zuwendungen für ihre Religionsschulen ebenso zu kürzen wie die für Bildungseinrichtungen, an denen kaum weltliche Fächer wie Mathematik oder Englisch unterrichtet werden. »Den großen Propagandisten von Hass gegen die Religion und die Rechten das Schatzamt und den Vorsitz im Finanzausschuss zu geben, ist eine Schande und eine existentielle Bedrohung für die Welt der Tora«, tob­te Litzman.

Solange die neue Regierung nicht offiziell im Amt ist, werden auch die Versuche Netanyahus und seiner Verbündeten, einen Keil in die »Koalition des Wechsels« zu treiben, nicht aufhören. Erst am Montagmorgen bot er sogar seinen Rücktritt für den Fall an, dass Bennett und Sa’ars Partei Neue Hoffnung doch noch in sein Lager zurückkehren würden. Vor allem auf den Yamina-Abgeordneten Nir Orbach wurde von allen Seiten viel Druck ausgeübt, weil er das Achtparteienbündnis kritisch sah und deshalb als Wackelkan­didat galt, der im letzten Moment die Gefolgschaft verweigern könnte. Eine einzige fehlende Stimme würde Lapids und Bennetts Regierungsprojekt zunichte machen. Das wissen alle Beteiligten, weshalb die Spannung steigt.

Auch der Ton wird deutlich rauer. Vor dem Haus von Ayelet Shaked kam es zu wütenden Demonstrationen, organisiert von der Partei Religiöse Zionisten, die ihr Verrat vorwerfen. Und sowohl Lieberman als auch die Meretz-­Politikerin Tamar Zandberg erhielten Todesdrohungen. Der Leiter des Inlandsgeheimdiensts Shin Beth, Nadav Argaman, warnte bereits vor einem Klima der Gewalt; der Personenschutz von Politikern musste aufgestockt ­werden. Sollte die neue Koalition wie geplant die Amtsgeschäfte übernehmen, hätte sie ihr Ziel, Netanyahu abzulösen, zwar erreicht. Doch die wirkliche Herausforderung, die gesellschaftlichen Konflikte in Israel zu entschärfen, läge noch vor ihr.