Zum 20. Todestag der ­Holocaustüberlebenden Hanna Lévy-Hass

»Eine Welt in Zersetzung«

Am 10.  Juni jährt sich der Todestag der kommunistischen Widerstandskämpferin und Holocaustüberlebenden Hanna Lévy-Hass zum 20. Mal. Ihr Tagebuch aus Bergen-Belsen ist ein einzigartiges Dokument aus dem Inneren der Barbarei.

»Es ist abscheulich, was man aus den Menschen gemacht hat«, notierte Hanna Lévy-Hass im April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. »Die demütigendste und düsterste Sklaverei, die man sich vorstellen kann, hat bewirkt, dass das Leben im Lager nichts mehr mit einer menschlichen Auffassung vom Leben gemein hat. In Wirklichkeit handelt es sich darum, den teuflischen und sicheren Tod Tausender menschlicher Lebewesen herbeizuführen.«

»In jenen Jahren waren Menschen wie sie, darunter viele Juden, auf der Suche nach allem, was nationale, ethnische und religiöse Schranken transzendierte. Vereint wurden sie durch das Ideal der Gleichheit.«
Amira Hass über ihre Mutter Hanna Lévy-Hass

Rund drei Jahrzehnte sollten vergehen, bis Lévy-Hass einwilligte, die Aufzeichnungen ihrer traumatischen Erfahrungen im KZ zu veröffentlichen. Es ist das einzige erhaltene Tagebuch einer Widerstandskämpferin und Überlebenden, das in einem Konzentrationslager verfasst wurde. Mit einem begleitenden Interview mit der Verfasserin wurden die Einträge 1979 im Rotbuch-Verlag in Berlin unter dem Titel »Vielleicht war das alles erst der Anfang. Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen 1944–1945« veröffentlicht. Herausgeber der Texte war ihr damaliger ­Lebensgefährte Eike Geisel.

Wer war diese beeindruckende Frau, Kommunistin, Jüdin, Zeitzeugin und Überlebende, die Kindern in der Baracke von Bergen-Belsen unter ­Lebensgefahr Unterricht erteilte und später am Aufbau der Kommunistischen Partei Israels beteiligt war? Das unstete Leben von Lévy-Hass beschrieb deren Tochter Amira Hass im Vorwort zu dem 2009 von ihr ver­öffentlichten »Tagebuch aus Bergen-Belsen«. Hanna wurde 1913 in Sarajevo als jüngste Tochter in einer ­Familie sephardischer Juden geboren und entschied sich als junge Frau für ein Studium der romanischen Sprachen, vor allem Fran­zösisch und Italienisch, sowie der Literatur in Belgrad und Paris. Sie kehrte nach Jugoslawien zurück und unterrichtete dort bis 1941 an einem Gymnasium. Nach der Kapitulation der jugoslawischen Monarchie vor den Faschisten wurde Lévy-Hass als Jüdin und als Kommunistin vom Schulbetrieb suspendiert. Wie Jean Améry und Primo Levi kämpfte sie in Partisanengruppen gegen die Besatzer.

Amira Hass charakterisiert diese Lebensphase ihrer Mutter so: »Sie war in Bosnien geboren, studierte in Serbien, las und schrieb sowohl in ­lateinischer als auch kyrillischer Schrift und hatte Freunde und Freundinnen jeglicher ethnischer wie ­religiöser Herkunft. Sie fühlte sich als Gleiche unter Gleichen. Ihre Brüder und Schwestern lebten verstreut in den verschiedenen Republiken. Vor allem im kommunistischen Untergrund, dem sie als junge Frau angehörte, war diese Mischung völlig ­natürlich. In jenen Jahren waren Menschen wie sie, darunter viele Juden, auf der Suche nach allem, was nationale, ethnische und religiöse Schranken transzendierte. Vereint wurden sie durch das Ideal der Gleichheit. Menschen um sie herum schlossen sich wie selbstverständlich den ­Internationalen Brigaden an, die im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten kämpften.«

Nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 besetzten die Deutschen Montenegro und begannen auch dort mit der Deportation und Ermordung der Juden. Lévy-Hass wurde im Februar 1944 von der Gestapo inhaftiert und im Sommer desselben Jahres in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Hunger und Seuchen im Lager forderten allein im März 1945 mehr als 18 000 Opfer. Als das Lager 1945 vor der Befreiung durch die britische Armee stand, schickte die SS Lévy-Hass auf einen Räumungstransport; dieser wurde von sowjetischen Truppen befreit.

Nach Kriegsende lebte sie drei Jahre im sozialistischen Jugoslawien und ließ sich im Jahr 1948 im soeben gegründeten Staat Israel nieder. Hier engagierte sie sich von Anfang an in der Kommunistischen Partei, in feministischen Gruppen und bei der »Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer«. In den achtziger Jahren bereiste sie Westeuropa, lebte zeitweilig in Genf und in Paris, bevor sie nach Israel zurückkehrte, wo sie 2001 in Jerusalem starb.

Lévy-Hass war einige Jahre die ­Lebensgefährtin des deutschen Publizisten Eike Geisel, der durch Polemiken zur »Wiedergutmachung« und zum Antisemitismus in der deutschen Linken bekannt wurde. Scharf kritisierte Geisel die Ehrung von Wehrmachtssoldaten und SS-Mitgliedern auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg 1985 durch Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan. »Die antijüdischen ­Begleiterscheinungen bei der Rehabilitierung der deutschen Wehrmacht in Bitburg«, schrieb er, »waren nur das vorerst letzte Beispiel für die Fortzeugung dieser Haltung, die ein israelischer Publizist auf die folgende Formel gebracht hat: ›Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen.‹«

Anders als zu den Berichten von Primo Levi und Jean Améry gibt es zu den Aufzeichnungen von Lévy-Hass kaum Literatur. Dabei handelt es sich um ein einzigartiges Dokument. Während ein Großteil der Berichte von Überlebenden der Shoah nach 1945 geschrieben wurden, hielt Lévy-Hass ihre Erfahrungen unmittelbar im Lager unter Lebensgefahr fest. Ein Umstand, den sie später ein wenig herunterspielte: »Wahrscheinlich war das Schreiben etwas gefährlich, aber ich habe nicht daran gedacht. Ich habe ein kleines Notizbuch ­gehabt, und wenn ich Zeit oder Mut hatte, dann habe ich geschrieben.«

Wie andere Zeugen des Holocaust vermochte auch Lévy-Hass es viele Jahre nicht, über die erfahrenen Gräuel zu sprechen. Sie zögerte fast drei Jahrzehnte, bis sie der Veröffentlichung des Tagebuchs zustimmte, das in vielerlei Hinsicht ein besonderes Zeugnis darstellt. Es verweist an vielen Stellen auf den präzedenzlosen Charakter der Vernichtungsmaschinerie. »Dieses Lager ist in bewusster Absicht und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit so geschaffen und eingerichtet worden, dass hier methodisch und plan­mäßig Tausende menschlicher Wesen ausgerottet werden«, schreibt Lévy-Hass.

Während für Jean Améry der Intellektuelle im Lager »den Ver­nichtern mit all seinen Kenntnissen, Analysen weniger entgegenzusetzen (hatte) als der (U)ngeistige«, stellte für Lévy-Hass das Denken eine Strategie dar, die eigenen fürchterlichen Erfahrungen zu verarbeiten. Sie habe in Bergen-Belsen gelernt, das »besondere Schicksal mit den allgemeinen Fragen eng zu verbinden«, und betrachtet die Vorgänge im »Konz-Lager« (Lévy-Hass) »vor allem im Rahmen der Lösung der Probleme im Weltmaßstab«. In ihrem Tagebuch finden sich anders als bei Améry keine Momente der völligen Resignation, was sicherlich nicht nur mit dem unterschiedlichen subjektiven Erleben zu tun hat, sondern auch mit den objektiven Unterschieden zwischen dem Vernichtungslager Auschwitz und dem Lager Bergen-Belsen. Bis 1943 diente Bergen-Belsen der Wehrmacht als Arbeitslager, im April übernahm die SS den Großteil des Geländes; ab März 1944 wurde Bergen-Belsen ein Konzentrationslager, in dem Hunger und Seuchen als Methoden der Vernichtung dienten.

Für Améry wurde die philosophische Reflexion im Lager zu einer ­Belastung, für Lévy-Hass bedeutete sie einen Halt, den sie – wenn auch oft vergeblich – suchte. Sie schreibt: »Ich möchte gern irgendetwas An­genehmes und Ästhetisches fühlen.« Vor allem vermisste sie die Literatur, wie der Eintrag vom 29. August bezeugt: »Man ist krank, wenn man keine Bücher hat. Ich habe den Eindruck, mein innerstes Wesen ist ­erschlagen. Wie viele verlorene Stunden, wie viele entgangene, unerreichbare Reichtümer. Welch ein elendes, fruchtloses Leben.«

Die Hoffnungslosigkeit scheint jedoch niemals ganz und gar zu sein. Inmitten des Elends wagt die überzeugte Kommunistin sogar einen Blick auf die Zeit nach dem Lager. »Eine Welt in Zersetzung«, schreibt Lévy-Hass am 28. August 1944. »Eine neue, gesündere Welt wird sie ablösen. Ich bebe vor Freude beim Gedanken an das neue Leben, an den kommenden Triumph der Heiligkeit und der Wahrheit. (…) Für der­artige Zwangssituationen wird kein Platz mehr sein.«