Bei den Zwischenwahlen in ­Mexiko waren Frauen erfolgreich

Dämpfer für López Obrador

Bei den Zwischenwahlen in Mexiko gewann Präsident López Obradors Regierungskoalition Bundesstaaten hinzu. Sie bleibt stärkste Kraft in der Abgeordnetenkammer, verliert aber die Zweidrittelmehrheit.

Es waren Wahlen der Superlative. Am 6. Juni waren 93,5 Millionen wahlberechtigte Mexikaner aufgerufen, über die Besetzung von mehr als 20 500 ­öffentlichen Ämtern zu entscheiden: 500 Sitze in der Abgeordnetenkammer und 15 Gouverneursposten (sprich fast in der der Hälfte der 32 Bundesstaaten) waren zu vergeben; 30 regionale Parlamente und fast 2 000 Stadträte wurden neu besetzt. Früh zeichnete sich die erste Überraschung ab: Am Morgen des Wahlsonntags bildeten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen. Tatsächlich gingen 52,6 Prozent der Wahlberechtigten wählen – die höchste Beteiligung bei Zwischenwahlen seit 1997. Damit hatten viele vor dem Hintergrund eines extrem gewaltgeladenen Wahlkampfs und unter Pandemiebedingungen nicht gerechnet.

Weniger überraschend waren die Ergebnisse der Parlamentswahlen, die sich in den Prognosen der Tage davor bereits abzeichneten: Die sozialdemokratische Partei Morena von Präsident Andrés Manuel López Obrador bleibt mit 34,1 Prozent der Stimmen stärkste Kraft im Abgeordnetenhaus, verliert aber die einfache Mehrheit. Statt der bisherigen 256 Sitze wird sie zukünftig nur noch über 197 Sitze verfügen. Auch mit den Verbündeten in der Allianz »Juntos Hacemos Historia«, der Arbeiterpartei PT (3,2 Prozent) und den Grünen vom PVEM (5,4 Prozent), kommt Morena nicht mehr auf die Zweidrittelmehrheit, derer es für Verfassungsänderungen ­bedarf. Für den mexikanischen Präsidenten wird es damit schwieriger, geplante Verfassungsreformen wie etwa die umstrittene Energiereform durchzusetzen.

Der konservative Pan (Partei der nationalen Aktion) und der zentristische PRI (Partei der institutionalisierten Revolution), der das Land als Einheitspartei jahrzehntelang regiert hatte, holten im Laufe des Wahlkampfs auf und erhielten 18,2 respektive 17,7 Prozent der Stimmen. Das im Dezember 2020 neu formierte wirtschaftsliberale Oppositionsbündnis aus Pan, PRI und dem linksliberalen PRD (Partei der demokratischen ­Revolution) namens »Va por México« hat sich zu einer ernsthaften Gefahr für López Obrador entwickelt. Mit 197 Abgeordnetensitzen für Va por México steht dem Regierungslager, das über die 279 Sitze für sein Bündnis Juntos Hacemos Historia verfügt, künftig ein starker Block im Unterhaus entgegen.

Während die Wähler den Handlungsspielraum der Regierungskoalition in der Abgeordnetenkammer beschränkten, machten sie sie bei den Gouverneurswahlen zur großen Gewinnerin. Elf der 15 Bundesstaaten, in denen ­gewählt wurde, gehen an Morena und ihre Verbündeten. Selbst traditionelle Pan- und PRI-Hochburgen in den nördlichen Pazifik-Bundesstaaten Baja California Sur, Sinaloa und Sonora gewann Morena. In der Summe verlieren die Oppositionsparteien zehn Bundesstaaten an die Parteien der Regierungskoa­lition, die nun 16 von 32 Gouverneuren stellt. Zukünftig werden sechs Bundesstaaten von Frauen regiert, in Mexiko-Stadt ist zudem weiterhin López Obradors Parteifreundin Claudia Sheinbaum Bürgermeisterin. Noch nie zuvor in der Geschichte Mexikos gab es so viele Gouverneurinnen, noch nie zuvor standen so viele Frauen zur Wahl: Der Nationalen Wahlbehörde INE (Instituto Nacional Electoral) zufolge hatten sich 71 465 Frauen und 67 347 Männer um ein Amt beworben.

Überraschende Verluste verzeichnet Morena dagegen in ihrer ehemaligen Hochburg Mexiko-Stadt, wo sie sechs Bezirke an die Opposition abgeben muss. Den wohlhabenderen Westteil der Stadt verlor die Regierungspartei, im von Arbeiter- und Armenvierteln geprägten Osten bleibt sie weiter die stärkste Kraft. Bürgermeisterin Sheinbaum und López Obrador machten Hetzkampagnen der Opposition und Medien für die Verluste verantwortlich, enttäuschte ehemalige Morena-Wähler begründeten ihre Wahlentscheidung für die Opposition mit der wachsenden Kriminalität in der Hauptstadt und ­einem U-Bahn-Unfall im Mai, der 26 Menschenleben forderte und auf marode Infrastruktur zurückzuführen war. In den sozialen Medien machten Karten einer geteilten Hauptstadt mit der Überschrift »El muro de Berlín en CDMX« (Die Berliner Mauer in Mexiko-Stadt) die Runde: das Blau des Pan im Westen, das Rot von Morena im Osten. Es scheint, die starke politische Polarisierung der mexikanischen Gesellschaft prägt nun auch Mexiko-Stadt.

Der Wahlkampf war von Gewalt geprägt – mindestens 91 Politiker, darunter 36, die sich zur Wahl gestellt hatten, wurden getötet. Einige Stunden vor der Wahl verlor ein weiterer Kandidat sein Leben: Im Bundesstaat Veracruz wurde René Tovar, Bürgermeisterkandidat der Kleinstadt Cazones de Herrera, in seinem Haus erschossen. In Chiapas kam es kurz vor Wahlbeginn zu einem bewaffneten Angriff auf Wahlhelfer der Wahlbehörde INE: Fünf Menschen starben, die Täter entkamen.

Vereinzelt wurden Wahllokale von bewaffneten Gruppen gestürmt, Stimmzettel verbrannt und Wähler bedroht. In Mexicali im Bundesstaat Baja California schossen Unbekannte auf das ört­liche Parteibüro von Morena. Zu besonders widerwärtigen Versuchen, Wähler einzuschüchtern, kam es in Tijuana: In zwei Wahllokalen wurden abgetrennte menschliche Köpfe vorgefunden. »Leider ereignen sich diese unglücklichen, aber vereinzelten Vorfälle in einem von sozialen Konflikten geprägten Land wie Mexiko Jahr um Jahr«, äußerte sich Lorenzo Córdova, der Vorsitzende der INE, zu den Vorfällen.

Für mexikanische Verhältnisse verlief der Wahlsonntag selber dann sogar recht friedlich. Die Stimmabgabe funktionierte in den 162 570 Wahllokalen größtenteils ordnungsgemäß und ohne Zwischenfälle. Córdova sprach von einem »wahrhaftigen Fest der Demokratie« angesichts des »reibungslosen Ablaufs in 99,91 Prozent der Wahllokale«. Die INE sowie 559 ausländische Wahlbeobachter, etwa von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) oder vom regionalen Parteienverbund Ständige Konferenz der Politischen Parteien Lateinamerikas und der Karibik (COPPPAL), überwachten die Wahlen. »Wir konnten keine schwerwiegenden Versuche der Wahlmanipulation erkennen«, so Santiago A. Canton, Leiter der OAS-Wahlbeobachtungsmission in Mexiko.

Die Wahlen galten auch als Stimmungstest für López Obrador in der Mitte seiner sechsjährigen Amtszeit. Zwei Botschaften gaben die Wähler dem Präsidenten mit auf den Weg. Sie schenkten ihm für die letzte Hälfte seiner Präsidentschaft weiterhin ihr Vertrauen, wenn auch eingeschränkt: Verfassungsänderungen wird er nicht mehr ohne Kompromisse mit der Opposition durchsetzen können. Diese geht zwar gestärkt aus den Wahlen hervor, doch ein großer Teil der Wähler steht weiter hinter López Obrador, trotz desaströser öffentlicher Sicherheit und Covid-19-Krise.

Der Großwahltag am 6. Juni war noch aus anderen Gründen ein bedeutender Tag für das Land: Die Besetzung zahlreicher wichtiger Posten mit Frauen ist ein Erfolg für die Frauenbewegung. Der weitgehend korrekte und gut organisierte Wahlprozess sowie die hohe Wahlbeteiligung sind ein wichtiger Schritt im Demokratisierungsprozess Mexikos, das bis 2000 de facto ein Einparteienstaat gewesen war.

»¡Qué viva la democracia!« (Es lebe die Demokratie!) rief López Obrador denn auch nach seiner Stimmabgabe im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt. Im Rahmen der Pressekonferenz am Morgen nach dem Großwahltag feierte er die Wahlen als einen »Triumph der Demokratie«, trotz der Verluste seines Lagers: »Dies waren historische Wahlen, freie und saubere Wahlen, wie es sie in vorherigen Zeiten nicht gegeben hat.«

In einem seit Jahrzehnten von Wahlmanipulation, korrupten Parteien und Vetternwirtschaft geprägten politischen System sind freie und saubere Wahlen freilich eine große Errungenschaft. Oft wurde López Obrador wegen seines autoritärer werdenden Regierungsstils kritisiert; dass die Wahlen unter Einhaltung demokratischer Spielregeln stattfinden konnten, ist jedoch auch sein Verdienst.