Der türkische Unterweltboss Sedat Preker poltert gegen den ­»tiefen Staat«

Der Pate und der tiefe Staat

Der türkische Unterweltboss Sedat Peker erreicht mit seinen Videos ein Millionenpublikum. Das Hauptziel seiner Attacken ist der ­mächtige türkische Innenminister Süleyman Soylu.

Der Pate hat auf Youtube ein Millionenpublikum. »Süslu Süllü«, grölt er er immer wieder in die Kamera und gluckst vor Lachen. Das heißt so viel wie »der gelackte Süleyman« und foppt den türkischen Innenminister Süleyman ­Soylu, der eine Schwäche für teure Anzüge hat und für seine betont höflichen Manieren bekannt ist. Hinter der sauberen Fassade lauere ein Morast aus Schmutz und Gestank, so Sedat Peker, eine bekannte Unterweltgröße. Er werde dafür sorgen, dass »Süllü« in eine Streichholzschachtel passe oder er ihn an einem Hundehalsband herumführen könne.

Soylu ist das Hauptziel der Attacken von Sedat Peker, einem Gangster turanistischer Gesinnung. Den Traum von einem großtürkischen Reich erwähnt er ebenso gern wie er allerlei zitiert, mal aus der islamischen Geschichte, mal Joseph Goebbels, Che Guevara oder Sigmund Freud. »Süllü, ich werde dich therapieren«, heißt es in einem der ­Videos nach einem Exkurs zur Freud’schen Psychoanalyse. Dann höhnisch zu seinem Publikum: »Der hat seinen Dreck so aktiv verdrängt, dass er mittlerweile selbst an die gelackte Fassade glaubt.«

Noch 2016 twitterte Sedat Peker, er werde im Blute der »Friedens­akademiker« baden, die eine Petition unterzeichnet hatten. Umso unglaublicher ist sein plötzlicher Sinneswandel.

In den Videos sitzt Peker mit aufgeknöpftem Hemd und protziger Goldkette in einer Hotel-Suite an einem Schreibtisch. Auf diesem drapiert er verschiedene Bücher und andere Gegenstände, die jeweils zu seinem Wortschwall aus Flüchen, Abrechnungen, Drohungen und thematischen Ex­kursen passen. Nach eigenen Angaben befindet er sich in Dubai, Innenminister Soylu dagegen sagte in einem Interview, er vermute Peker in Albanien. Auf dem Tisch liegt in den ersten beiden Videos ein Buch von Mario Puzo: »Narren sterben«. Der für seine Mafiaromane über die »Familie« des Paten Don Vito Corleone bekannte italoamerikanische Schriftsteller erzählt in diesem Buch die Geschichte eines Autors in der schillernden Welt der Medienmogule und Filmstars in New York City, der um Geld und um die Liebe spielt. Am Ende ist er der Sieger, denn er überlebt – und die Narren sterben.

Es ist eine bizarre Selbstinszenierung Pekers, die immer wieder erstaunt. Denn auch wenn er seine Überlegenheit in Szene setzt, wirkt der Pate mit der dröhnenden Stimme und dem expressiven Stil oft tief verletzt. Seine einflussreichen Freunde haben ihn reingelegt, seine Villa in Istanbul wurde im April von der Drogenfahndung mit Hunden durchsucht. Die Fahnder hätten seine Tochter zum Weinen gebracht und es gewagt, den Kleiderschrank seiner Frau zu durchsuchen, ohne Beamtinnen dabei zu haben. »Das verstößt gegen alle unsere Sitten«, Peker schluchzt fast in die Kamera, um dann wieder zu brüllen: »Süllü, ich mache dich fertig.«

Seit Ende April plaudert Sedat Peker in seinen Videos über die Mächtigen in der Türkei: Direkt nach Süleyman ­Soylu kommen ehemalige Regierungsmitglieder wie Mehmet Ağar an die Reihe, überdies Erkan Yıldırım, der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım. Auch über Mehmet Ağars Sohn Tolga Ağar, einen Parlamentsabgeordneten der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP), zieht er her. Den Schwiegersohn des Präsidenten, Berat Albayrak, und dessen Bruder bezeichnet Peker als Auftraggeber der »Pelikane«. Als solche bezeichnet man in der Türkei gekaufte Journalisten, die große Mediengruppen unterwandern, um die öffentliche Meinungsbildung zu manipulieren. Zudem geht es um Auftragsmorde und Drogenschmuggel, Vergewaltigungen und Intrigen. Tolga Ağar habe, so Peker, eine junge Frau töten lassen, weil sie den Politiker der Vergewaltigung beschuldigt habe. Und Erkan Yıldırıms Reisen nach Venezuela dienten einem großangelegten Drogenschmuggel, den Teile der Staatsbürokratie und der Sicherheitskräfte unterstützten und ­ermöglichten.

Der 49jährige Peker wird von Interpol gesucht und hat 16 Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht: wegen Mord, Bildung krimineller Vereinigungen und Dokumentenfälschung. 2014 wurde er frühzeitig aus der Haft entlassen und nach dem gescheiterten Militärputschversuch von 2016 auf Veranstaltungen der AKP wie ein Rockstar begrüßt. Nachdem die Justiz gegen Hunderte Akademiker strafrechtliche Ermittlungen wegen terroristischer Propaganda eingeleitet hatte, weil sie eine Friedenspetition gegen das mili­tärische Vorgehen der Türkei gegen die PKK unterschrieben hatten, twitterte Peker, er werde im Blute der »Friedensakademiker« baden.

Umso unglaublicher ist der plötzliche Sinneswandel. In seinen Videobotschaften doziert der Pate, dass er seit Kindertagen an die Ideale der turanistischen Heldenverehrung glaube, doch ­diese seien vom sogenannten tiefen Staat immer wieder instrumentalisiert und verraten worden. Dieser produziere immer wieder Feindbilder – die Kurden, die CIA, den Westen, die Aleviten –, um eine Kriegstreiberpolitik zu rechtfertigen, die Bedarf an Waffen und Infrastruktur schaffe und Profit generiere – mit Waffen- und Drogenschmuggel als Haupteinnahmequellen. Das sind erstaunliche Aussagen für einen Turanisten. In einigen Videos pendelte über Pekers Schreibtisch eine Kette mit einem Anhänger, der das Schwert Alis, des Schwiegersohns des Propheten, darstellt, den die Ale­viten besonders verehren.

Als »der tiefe Mehmet« bezeichnet Peker Mehmet Ağar, einen AKP-Politiker, der in den achtziger Jahren stellvertretender Polizeichef in Istanbul war und in den Neunzigern als Innenminister im Kabinett der konservativen Ministerpräsidentin Tansu Çiller (DYP) diente. Peker zufolge soll er den »tiefen Staat« in der Türkei leiten, einen geheimen Machtapparat, in dem Militär, Geheimdienste, Politik, Justiz, Verwaltung, Rechtsextremismus und organisierte Kriminalität Hand in Hand arbeiten.

Das ist kein neuer Vorwurf, wie der Journalist und Abgeordnete Ahmet Şık auf der Medienplattform T24 betont. Mehmet Ağar musste nach dem sogenannten Susurluk-Skandal als Drahtzieher eine Gefängnisstrafe verbüßen. Am 3. November 1996 war ein Mercedes nahe der westanatolischen Stadt Susurluk verunglückt – mit einem Abgeordneten der damals regierenden konservativen Partei des Rechen Wegs (DYP), einem Polizeichef und einem international gesuchten Mörder und Drogenschmuggler an Bord, dem Rechtsextremen Abdullah Çatlı. Dieser, ein Gesinnungsgenosse von Sedat Peker, trug einen Pass bei sich, der auf einen falschen Namen ausgestellt und vom damaligen Innenminister Mehmet Ağar unterschrieben worden war. Die drei führten ein Waffenarsenal und weitere falsche Ausweise und Berechtigungen mit sich.

Noch 2016 twitterte Sedat Peker, er werde im Blute der »Friedens­akademiker« baden, die eine Petition unterzeichnet hatten. Umso unglaublicher ist sein plötzlicher Sinneswandel.

Ein Untersuchungsausschuss wurde eingerichtet, der zu dem Schluss kam, dass die offiziell als »Kampf gegen den Terror« deklarierte Mission der Unfallopfer und ihrer Verbindungsleute allerhand schmutzigen Geschäften der Art, wie Peker sie derzeit beschreibt, diente. Ahmet Şık betont, dass die Gruppe um Ağar damals von Leuten aus der Fethullah-Gülen-Bewegung ersetzt wurde. Nach der Zerschlagung von deren Machtbasis im Polizeiapparat und in der Staatsbürokratie während und nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016 habe die alte Truppe um Ağar erneut an Einfluss gewonnen.

Şık zufolge, der sich jahrelang investigativ mit der Gülen-Bewegung beschäftigt hat, arbeiten die verschiedenen türkischen Regierungen seit Jahrzehnten mit Strukturen des »tiefen Staats« zusammen, um ihre Macht zu zementieren. Er führt die Beschlagnahmung von Eigentum des aserbai­dschanischen Milliardärs Mübariz Mansimov in der Türkei, unter anderem des Jachthafens in Yalıkavak, als Beispiel an. »Mansimov wurde als angeblicher Anhänger der kriminellen Ver­einigung der Fethullah-Terrororganisation verhaftet und enteignet. Ağar ­posierte dann mit dem Mafiaboss Alaattin Çakıcı, dem Geheimdienstler und Kumpel aus der Susurluk-Clique Korkut Eken und Engin Alan, einem Angeklagten aus dem Ergenekon-Prozess, an dem beschlagnahmten Jachthafen in Yalıkavak bei Bodrum. Das kann man als Rückbesinnung auf die Mission der Neunziger sehen.«

Einem Gerücht zufolge verließ Peker 2020 die Türkei, als Alaattin Çakıcı überraschend aus dem Gefängnis entlassen wurde, in dem er wegen der ­Susurluk-Affäre einsaß; nach Angaben Pekers hatte ihm Süleyman Soylu dazu geraten. Aber für einen bloßen Machtkampf unter Paten stehen die Enthüllungen Pekers zu sehr im Widerspruch zu der politischen Haltung, die er jahrzehntelang eingenommen hatte.

Die Hintergründe von Sedat Pekers Auftritten sind nebulös. Er beschuldigt den Innenminister schwer, Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezieht er bislang aber eher als eine Autoritätsperson in schlechter Gesellschaft in die Videobotschaften ein. Immer wieder wünscht der Unterweltboss, persönlich mit dem mächtigsten Mann im Staat reden zu können. »Das ist eine ganz alte Leier«, betont der Journalist Murat Yetkin. Es müsse beachtet werden, dass, seit die AKP 2015 die absolute Mehrheit im Parlament durch den Aufstieg der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes (HDP) verlor, die Kriminalisierung der Opposition gezielt vorangetrieben wurde.

Pekers plötzliche Hinwendung zu einer Haltung, die Kurden und Oppositionelle im Vergleich zum »tiefen Staat« als das kleinere Übel betrachtet, ist in diesem Zusammenhang besonders interessant. Im nächsten Video soll es nun um Präsident Erdoğan persönlich gehen.